Das Wichtigste ist die Freiheit
Genau wie vor zwanzig Jahren war die deutsche Hauptstadt auch 2009 das Epizentrum der Ereignisse rund um den 9. November und Sofia die Peripherie, zu der nur der Nachhall herüberkam. Die bulgarischen Sender übertrugen die Festlichkeiten in Berlin. Im Unterschied zu damals wirkte jedoch die Euphorie im Jahr 2009 nicht mitreißend. Als Ergebnis der Enttäuschungen, die den strapazierenden Übergang von Sozialismus zur Demokratie begleiteten und einen dicken Schatten auf die gewaltigen positiven Veränderungen warfen, legt die bulgarische Gesellschaft heute eine sichtbare Erschöpfung an den Tag.
„Als wir vor zehn Monaten verschiedene Protagonisten des Jahres 1989 befragten, wie der Geburtstag der Demokratie begangen werden sollte, bekamen wir meistens die Antwort: ‚Gar nicht.‘“, schreibt die Wochenzeitung Kapital in ihrer Ankündigung zu einer großen Reihe von Beiträge zum Thema 1989. Sie erklärte die Missstimmung der Protestgeneration von damals mit dem Balancieren zwischen zwei verschiedenen sozialen Lebenserfahrungen und dem naiven Glauben, dass mit dem Kommunismus das Böse und das Niedere von der Gesellschaft Abschied nehmen würde.
Die große Hoffnung und Vorfreude aus den Wendejahren 1989/1990 sind zur einer reichlich dokumentierten Geschichte geworden. An ihre Stelle ist heute das Bewusstsein getreten, in einer defekten Demokratie zu leben: „Was haben wir falsch gemacht?“, „Wer hat uns verraten?“, „Wie wäre es jetzt gewesen, wenn wir die Fehler der Transformation hätten umgehen können?“ – Diese Fragen der Auseinandersetzung mit der neuesten Vergangenheit beschäftigen deshalb die bulgarische Öffentlichkeit am Vorabend des Jahrestages sehr intensiv. Viele Antworten dazu, etwa zur Konstellation der Kommunisten in Spitzenpositionen unmittelbar vor der Wende, die das politische Leben auch im Nachwendebulgarien weiter bestimmen durften, liefert das Buch des Enthüllungsjournalisten Hristo Hristov „Todor Schivkov. Eine Biographie“, das seit kurzem im Buchhandel ist.
Aber auch die Medien veröffentlichen im Oktober und November zahlreiche einschlägige Dokumentationen, Reportagen und Analysen. Die Übergangsgeschichte, gesehen durch persönliche Erlebnisse und Erfahrungen von ihren Gestaltern, wird dabei in den wichtigsten Stationen dargestellt: Die Gründung regimegegnerischer Umweltschutzorganisatonen 1988 und die darauffolgende Geburtsstunde der Opposition; die Auswanderung von 300.000 bulgarischen Türken in die Türkei infolge zwanghafter Bulgarisierung im Frühling und Sommer 1989; der Fall der Berliner Mauer am 9. November und der Sturz des kommunistischen Staats-, und Parteichefs Todor Schivkov am nächsten Tag; die erste große antikommunistische Massendemo am 14. Dezember zur Aufhebung des 1. Artikels der Verfassung über die führende Rolle der kommunistischen Partei, woraufhin der Nachfolger von Schivkov, Petar Mladenov, Panzer gegen die protestierende Menge bestellte; der runde Tisch, an dem die neugeborene Opposition zu viele Kompromisse gegenüber den Kommunisten machte; die ersten demokratischen Wahlen im Juni 1990, die durch Manipulationen von den Kommunisten gewonnen wurden; die Zeltlager und Bürgerbegehren für Neuwahlen; der Brand des Parteihauses im August 1990 und der parlamentarische Sieg der demokratischen Kräfte 1991.
Mit den trüben Zeiten der frühen Neunziger verbinden die Medien die Genesis der organisierten Kriminalität – ein besonders wichtiges Thema für die heutige bulgarische Gesellschaft. Damals konnten ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit, entlassene Millizionäre und Kampfsportler Firmen und Netzwerke gründen, um illegalen Geschäften nachzugehen. Während des Jugoslaiwen-Embargos erlebten diese ihre Blütezeit und nahmen an wirtschaftlich-politischem Einfluss zu.
Noch eins fällt bei der Jubiläumsretrospektive stark auf: Die ehemalige Nomenklatura der kommunistischen Partei BKP behielt ihre Machtposition mithilfe der Hintermänner der ehemaligen Geheimdienste. Die BKP schaffte die Transformation von einem politischen in ein wirtschaftliches Monopol, indem sie Kapital in ausländische Gesellschaften exportierte. Im neu erschienenen Buch des Enthüllungsjournalisten Hristo Hristov ist dieser Prozess sehr detailliert dargestellt. Und während dies kein Landesspezifikum ist, unterschieden sich die bulgarischen Kommunisten in ihrem Verhalten von den Kommunisten in anderen osteuropäischen Ländern dadurch, dass sie die Verantwortung für die begangenen Verbrechen bislang nicht übernommen haben. Auch seitens der Gesellschaft seien sie dazu nicht bewegt worden, bemerkt Ivan Grujkin in der Internetzeitung mediapool und schlussfolgert bitter: „Deshalb sind nur in Bulgarien rote Oligarchen möglich sowie ein Präsident, der aus Staatssicherheitskreisen hervorgeht. Es ist ein Land, in dem der kommunistische Staatschef Todor Schivkov von seinem Bodyguard, Bewunderer und Nachahmer, dem heutigen Premier Bojko Borissov, beerbt wird.“
„Niemand, absolut niemand ist überrascht, wenn uns 20 Jahre später, früh morgens im staatlichen Fernsehen der letzte Chef der kommunistischen Stasi-Abteilung 6 begrüßt. Der Bürger mit dem schön klingenden Spitznamen Mitjo der Gestapo winkt zu uns vom Bildschirm am frühen Morgen des 10.November. Und teilt uns seine wertvollen Gedanken mit. Das ist das Bild des heutigen 10. November...,“ bringt der Publizist Ivan Bedrov die Absurdität der heutigen Situation in seinem Blog ironisch auf den Punkt. Des großen Mangels einer Auseinandersetzung mit der finsteren Vergangenheit bewusst, finden sich jedoch einige kleinen Gruppen von Bürgern, die ehrenamtlich verschiedene Projekte entwickeln, wie etwa die Gestaltung eines e-Memorials der Opfer des Regimes (siehe www.victimsofcommunism.bg).
In der Internetzeitung mediapool versucht der Journalist Edvin Sugarev eine Antwort auf die Frage zu finden, warum wurde die bulgarische Transformation für die meisten Bulgaren zu einem schmutzigen Wort geworden ist. Der Umbruch habe doch, so die Frage weiter, formal seine Zwecke erfüllt: Bulgarien hat ein Mehrparteiensystem, Meinungsfreiheit, Maktwirtschaft, die Mitgliedschaft in der EU und in der Nato. Edvin Sugarev sieht den Grund dafür im Untertanengeist der Bulgaren, er definiert den Mangel an Zivilgeist als die Tragödie der bulgarischen Transformation.
Doch auch darin sind sich alle Analysatoren und Kommentatoren einig – egal, ob der Jahrestag gefeiert oder verdrängt wird, ob die Transformation als erfolgreich oder in vieler Hinsichten gescheitert angesehen wird: Der 10. November 1989 hat Bulgarien das Wichtigste gebracht – die Freiheit. „Heute sind wir freie Menschen und nicht wie früher leibeigene Knechte in einem mit Drahtzaun umsäumten und mit verminten Grenzen markierten sozialistischen Lager“, schlussfolgert Daniela Gortscheva auf mediapool. Diese große Errungenschaft heute Jugendlichen bewusst zu machen, sowie ihnen allgemein das unbekannte Leben im Sozialismus näher zu bringen, ist der Gegenstand des Projekts „1989 – Erinnerungsorte im Nordbulgarien“, über das die Wochenzeitung Kapital regelmäßig berichtet.