Russland

Die Jugend trifft die Krise besonders hart

Russische Hochschulabsolventen finden kaum noch angemessene Stellen

(n-ost) – Swetlana Tschistjakowa hatte Träume, sie wollte etwas erreichen in ihrem Leben: Karriere machen, stellvertretende Leiterin einer Firma in St. Petersburg werden und ihr Hobby, die Schriftstellerei, vorantreiben. Doch dann kam die Krise. Seit Juli arbeitet die 25-jährige Hochschulabsolventin auf einem Markt im Südwesten der Stadt, wo sie Handys und Handy-Zubehör verkauft. Natürlich nur vorübergehend, wie Swetlana betont. „Ich warte hier die Krise ab.“

Vor zwei Jahren hatte sie die Pädagogische Universität absolviert und anschließend eine Stelle als Assistentin der Geschäftsführung bei einem Möbel-Großhändler gefunden. Als wegen der Wirtschaftskrise der Umsatz stark sank und ihr der Lohn drei Mal gekürzt wurde, musste Swetlana kündigen. Es lohnte sich einfach nicht mehr. Ihr wurden zuletzt 10.000 Rubel (rund 230 Euro) Monatslohn angeboten. Seitdem sucht eine neue Stelle, die ihrer Ausbildung und ihren Erwartungen entspricht. Sie sucht bereits sein einem halben Jahr.


Arbeit und die Krise: Hochschulabsolventin Swetlana Tschistjakowa hält ihre Beschäftigung als Handy-Verkäuferin für vorübergehende Maßnahme. Foto: Irina Figut

Laut Statistik ist in Russland jeder dritte Arbeitslose jünger als 25 Jahre. Vor allem junge Uni-Absolventen sind betroffen, die den Arbeitsmarkt in der Krisenzeit ohne oder mit nur geringer Berufserfahrung betreten. Die „Generation K“ wird die Gruppe schon in russischen Medien genannt: K wie Krise. Dass das Angebot an jungen, qualifizierten Fachkräften die Nachfrage bei weitem übertrifft, wissen die Mitarbeiter des Personalwesens der Petersburger Zeitarbeitsfirmen. Es gebe neun Mal weniger Stellen für junge Fachleute als Bewerber, sagen sie. Besonders schwierig sei es, junge Juristen, Betriebswirte, Ingenieure, PR-Manager und Kunsthistoriker zu vermitteln. Heutzutage brauchen die Firmen nur Profis, die das Unternehmen durch die Krise bringen. Leute mit Erfahrung, eigenen Kontakten und Ideen, sagen Personalvermittler. Experten raten deswegen den Jugendlichen, weniger Gehalt zu fordern und eigene Ansprüche herunterzuschrauben.

Dieser Empfehlung folgt Swetlana Tschistjakowa, auch wenn es ihr schwer fällt. Sie bietet ihre Kenntnisse und Fähigkeiten billiger an, doch Arbeit findet sie dadurch nicht. Von den potenziellen Arbeitgebern kommt nur die Standardantwort: Sie würden sich bei ihr melden. Hat jemand die Stelle bekommen, der noch besser ist als sie? Oder hat sich jemand noch billiger verkauft?

Beim Arbeitsamt will Tschistjakowa sich nicht anmelden. Sie hält das Anstehen dort für Zeitverschwendung und geht lieber zu Vorstellungsgesprächen. Die letzte Umfrage des russischen Fonds für öffentliche Meinung zeigt, wie verbreitet diese Haltung ist: Etwa 80 Prozent der Jugendlichen halten sich von der Arbeitsagentur fern. Viele junge Leute suchen selbst Arbeit oder hoffen auf die Hilfe von Verwandten und Bekannten.

Timur Stening ist da eine Ausnahme: Er hat sich beim örtlichen Arbeitsamt angemeldet. „Ich gehe nur dahin, weil sie mir diese Zeit als Beschäftigung anrechnen“, sagt der 23-jährige Hochschulabsolvent. Die 850 Rubel (etwa 20 Euro), die er als Arbeitslosenhilfe bekommt, reichen sowieso nur für die Monats-Fahrkarte, so Stening. Über Bekannte hat er jedoch vor kurzem eine befristete Stelle gefunden: Im Amt für Wohnungswesen einer der Stadtbezirke von St. Petersburg prüft der studierte Betriebswirt jeden Tag den Zustand der Keller in den staatlichen Häusern. „Die Arbeit ist natürlich nicht das, was ich will, aber Besseres findet man momentan nicht“, räumt Timur ein. Viele von seinen ehemaligen Kommilitonen sitzen zu Hause ohne Arbeit.

Stening hat vor einem Jahr an der St. Petersburger Akademie für Verwaltung und Wirtschaft ein Diplom in der Fachrichtung „Krisenmanagement“ bekommen. Jedoch brachte die von den Arbeitgebern wohl sehr erwünschte Krisen-Kompetenz ihm keinen Vorteil auf dem Arbeitsmarkt.  „Ich habe überall gesucht, auch Beziehungen halfen zuerst nicht“, sagt Stening. Er habe keine Berufserfahrung und die Firmen hätten keine Mittel, um ihn in der Krise einzuarbeiten, sagt er. Nun freut sich der junge Absolvent, dass er die Arbeit beim Amt hat. „Ich dachte zuerst, den Job mache ich nur provisorisch, bis ich was finde. Aber jetzt gefällt es mir hier.“ Außerdem schätzen Arbeitgeber Bewerber mit Kontakten zu Ämtern, so Stening. Allerdings endet sein Vertrag im Dezember. Ob er verlängert wird, weiß Timur nicht.

Dass viele Hochschulabsolventen keine Arbeit in der Krise finden, ist für die Stadtverwaltung nichts Neues. Seit mehreren Monaten laufen in St. Petersburg und überall in Russland Programme, die jungen Leuten bei der Stellensuche helfen. St. Petersburg hat dafür 219 Millionen Rubel (rund fünf Millionen Euro) aus dem Budget bereitgestellt. Dank dieser Programme werden junge Leute umgeschult und weitergebildet. Sie absolvieren die von der Regierung bezahlten Praktika in den Betrieben. Die Universitäten richten mehr Studienplätze für Promovierende und Masterstudenten ein und schreiben mehr interne Stellen aus.

Die Experten sind jedoch überzeugt: Das beste Heilmittel gegen die Krise ist es, einen handwerklichen Beruf zu erlernen. Denn die seien überall gefragt. Der Leiter der Petersburger Personalagentur „Expert“, Wladimir Beljawskij, sagt: „Das Problem ist, dass nicht jede Hochschulausbildung auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt wird.“ Gerade Absolventen technischer oder pädagogischer Studiengänge würden kaum gesucht.

Alexander Molokanow hat sein eigenes Heilmittel gegen die Arbeitslosigkeit gefunden. Statt zu suchen, hat der 22-jährige Betriebswirt sein eigenes Unternehmen gegründet. Von Problemen junger Erwachsener am Arbeitsmarkt will er nichts hören. „Wer sucht, der findet immer etwas.“ Mit vier Freunden organisiert Molokanow den Sushi-Lieferservice im Süden von St. Petersburg, ab Neujahr ist die Erweiterung in andere Stadtteile geplant.

Irina Figut
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