Ukraine

Schlammschlacht im ukrainischen Wahlkampf

Todernst blickt die Premierministerin des Landes vom Bildschirm, das Haar wie schon seit Jahren perfekt zu einem Kranz geflochten: „Wenn Sie selber Masken für sich, Ihre Verwandten und Bekannten nähen können, dann ist das eine große Hilfe für das Land.“ Im Hintergrund pflichten ihr Götter in Weiß schweigend bei. Ein typisches Bild im ukrainischen Fernsehen in diesem November 2009: Die Grippewelle, die bis Ende der Woche 239 Ukrainern das Leben gekostet hat, wird gnadenlos ausgeschlachtet für den Wahlkampf.

Die Ukraine steht vor der Präsidentschaftswahl, und die könnte die schon fünf Jahre dauernde politische Krise beenden. Gleichzeitig steckt das Land tiefer als seine osteuropäischen Nachbarn in der Wirtschaftskrise. Und will man den allabendlichen Botschaften der Premierministerin Julia Timoschenko glauben, ist die Ukraine auch noch stärker als alle anderen von der Schweinegrippe betroffen. Das aber, so sind die meisten überzeugt, ist Wahlkampf-Theater. Denn bisher ist völlig unklar, wie viele der Grippe-Opfer tatsächlich an Schweinegrippe erkrankt sind und wie viele an den normalen Grippeviren. Dem Land fehlen schlicht die nötigen Labors, um die Erreger zu identifizieren.

Fünf Jahre sind vergangen seit der Orangenen Revolution, als der heutige Präsident Wiktor Juschtschenko und Premierministerin Julia Timoschenko mit wochenlangen Straßenprotesten auf dem Kiewer Hauptplatz Majdan die Macht errangen und von Demokratie, Europäischer Union und Freiheit schwärmten. Aber die einstige Aufbruchstimmung lässt sich nur noch im 250 Seiten dicken Bildband „Orange Revolution“ nachfühlen – und auch der wird kaum noch gekauft, wie die Verkäuferin im Kiewer Kaufhaus Tsum erklärt.

Die beiden „orangenen“ Führer Juschtschenko und Timoschenko haben sich schon 2005 zerstritten und Juschtschenko erwies sich trotz seiner umfangreichen Vollmachten als zu schwacher Präsident. Mit einer Verfassungsreform beschnitt das Parlament schließlich seine Rechte. Seitdem hangeln sich Parlament und Präsident von einem politischen Patt zum nächsten. Aber auch Wiktor Janukowitsch, der für das alte System stand und anfangs von russischer Seite unterstützt wurde, konnte kein Kapital aus der Selbstzerfleischung seiner beiden Gegner schlagen.

Am 17. Januar soll das 48-Millionen-Volk einen neuen Präsidenten wählen, und trotz der Vielzahl der Kandidaten heißen die beiden wichtigsten Konkurrenten Janukowitsch und Timoschenko. In verschiedenen Umfragen liegt Janukowitsch leicht vor der Premierministerin. Die smarte Timoschenko hat nicht nur das gesamte Land mit Wahlwerbung zugepflastert, sondern blickt auch täglich vom Fernsehbildschirm in die Wohnzimmer des Landes. Die Grenze zwischen der Rolle der Premierministerin und der einer Kandidatin für das Präsidentenamt ist dabei verschwunden: Anfang November empfing sie ein Flugzeug mit 300.000 Packungen des Grippe-Medikaments Tamiflu auf dem Kiewer Flughafen und präsentierte sich als Retterin der Nation. Vor wenigen Tagen hob sie die Gehälter von Lehrern, Briefträgern und Dorfbürgermeistern an – und musste sich von Präsident Juschtschenko den Vorwurf der Wählerbestechung gefallen lassen. Eben jener Juschtschenko hatte gleichzeitig vor wenigen Tagen ein Gesetz über die Anhebung der Mindestlöhne und Renten unterschrieben, wodurch der ukrainische Haushalt 2010 mit zusätzlichen vier Milliarden Euro belastet wird.

Die Vorwahlgeschenke der Politiker könnten die Ukraine derweil teuer zu stehen kommen: Am Wochenende drohte der Chef des Internationalen Währungsfonds an, die nächste Tranche des IWF-Kredits über 2,6 Milliarden Euro erst nach den Wahlen auszuzahlen. Als Konsequenz senkte die internationale Rating-Agentur Fitch am Donnerstag die Bonität der Ukraine. Ein Staatsbankrott ist angesichts der Reserven der Ukraine zwar ausgeschlossen, das Land könnte jedoch Probleme mit der Bezahlung der Gasimporte an die russische Gasprom bekommen. Das wiederum würde eine Gaskrise provozieren, wie Europa sie im letzten Winter erlebte, als mehrere europäische Staaten wochenlang von den russischen Gaslieferungen abgeschnitten waren.

Der ukrainische Wahlkampf ist nicht selten schmutzig, die mediale Ausschlachtung der Grippe-Epidemie ist nur das jüngste Beispiel. Bereits Ende Oktober wurde öffentlich, dass ein Abgeordneter aus der Partei der Premierministerin, der Block Julija Timoschenko (BJUT), in einen Pädophilie-Skandal verwickelt war. Und prompt rief Präsident Juschtschenko die Wähler dazu auf, keine Pädophilen mehr ins Parlament zu wählen. Am Mittwoch nannte der Präsident seine ehemalige Mitstreiterin Timoschenko öffentlich eine „Pennerin“.

Während sich die Kandidaten in immer neuen PR-Kampagnen gegenseitig beschimpfen, ist über ihre politischen und wirtschaftlichen Konzepte wenig bekannt: Timoschenko will eine „Diktatur des Gesetzes“ errichten, Janukowitsch „Ordnung herstellen“. Die wichtigsten Unterschiede liegen in der Außenpolitik: Die ehemalige Pro-Westlerin Timoschenko schweigt diplomatisch zum Thema Nato-Beitritt, ihr Konkurrent bleibt bei seinem klaren Nein.

Um konkrete Konzepte für Auswege aus der Wirtschaftskrise geht es jedoch überhaupt nicht. „Wenn wir die Kandidaten nach ihren Wirtschaftskonzepten fragen, endet das in großem Geschrei und gegenseitigen Vorwürfen, wer am meisten geklaut hat“, sagt Mustafa Najim, Moderator der wichtigsten Polit-Talkshow im Lande, Schuster Live. Ohnehin seien die Bürger des Landes der ewigen Versprechungen müde, sagt Najim. „Das politische Leben ist nur noch Theater mit den bekannten Akteuren in bekannten Rollen.“  Deshalb sinken seit Wochen die Einschaltquoten der politischen Sendungen. Das unabhängige Nachrichtenmagazin „Korrespondent“ analysierte jüngst, dass Juschtschenko, Janukowitsch und Timoschenko im Schnitt nur 30 Prozent ihrer Wahlversprechen nach Amtsantritt erfüllten, und kamen zu dem ernüchternden Urteil: „Alles Lügner!“

Laut einer Umfrage unterstützen fast 50 Prozent der Ukrainer keinen einzigen der Präsidentschaftskandidaten. Gleichzeitig steigt die Sehnsucht nach einer starken Hand. Als ein Meinungsforschungs-Institut jüngst den Ukrainern die Frage stellte, wie sie Alexander Lukaschenko sehen, den „letzten Diktator Europas“ in Belarus, antworteten fast 60 Prozent der Befragten: „positiv“.

Wenn am 17. Januar die Wahllokale schließen, würden die Wahlmanager des Herausforderers Janukowitsch am liebsten einen klaren Sieg ihres Kandidaten in der ersten Runde sehen: „Damit Timoschenko nicht vor Gericht zieht und von Wahlbetrug spricht“, sagt Denis Iwanesko, Janukowitschs Pressesprecher. Janukowitsch fürchtet sich vor Timoschenkos Willen zur Macht, einer Wiederholung der Orangen Revolution, die auch mit einer Anzweiflung der Wahlergebnisse begann. Gefragt nach dem Wahlausgang, witzeln viele Ukrainer heute: „Janukowitsch gewinnt die Wahl, und Timoschenko wird Präsidentin.“


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