Russland

Rostow trotzt der Krise

(n-ost) – In der Straßenunterführung vor dem Zentralen Markt von Rostow geht die Post ab. Maja Miftachowa, ein junges Mädchen, die sich ihre lockigen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hat, singt Blues und Folk-Lieder. Die Leute bleiben neugierig stehen. Einige Lieder kennt man. Es sind Evergreens der russischen Rock-Gruppen DDT und Chaif, aber auch eigene Kompositionen von Maja. Die 20-jährige Psychologie-Studentin ist eine kleine Person aber mit ihrer Stimme, mit der sie die Töne im Blues frech nach oben und unten zieht, hält sie die Leute im Bann.

Warum sie nach Rostow gekommen ist? Da braucht die Straßen-Musikantin nicht lange zu überlegen. „Hier ist es schön warm.“ Außerdem liege Rostow fast am Asowschen Meer. Und im Sommer fährt Miftachowa immer zum Studentencamp ans Schwarze Meer. Das sei „ganz toll“.

Um „normal zu leben“ braucht die junge Tatarin, die eigentlich aus der russischen Teilrepublik Baschkortostan stammt, 12.000 Rubel (280 Euro) im Monat, sagt sie. Als Best-Studentin bekommt sie den höchsten Stipendien-Satz von 1.500 Rubel (34 Euro). Die meisten ihrer Kommilitonen bekommen viel weniger. Deshalb ist es für russische Studenten ganz normal, sich selbst Geld zu verdienen. Maja verdient sich ihren Lebensunterhalt mit Straßenmusik. Viele ihrer Kommilitonen arbeiten in den Cafés der Stadt als Bedienung.


Im Oktober ist es noch warm. Da steht die Blues-Sängerin Maja Miftachowa fast täglich vor der Straßenunterführung am Zentralen Markt von Rostow, um sich Geld fürs Studium zu verdienen. Foto: Ulrich Heyden

Die Reaktionen des Publikums seien fast durchweg gut, erzählt Maja, der die Arbeit auf der Straße Spaß macht. Selbst Polizisten würden Geld geben. Nur manchmal gäbe es Ärger mit alten Omis. Die würden schimpfen, „geh doch arbeiten.“ Als ob Arbeit nur ist, wenn man in der Fabrik oder im Haushalt schuftet.

24-Stunden-Markt

Sich durchzuschlagen, dass ist nicht nur für Maja sondern auch für viele „Rostowtschani“, wie sich die Bürger der Hauptstadt des Verwaltungsbezirks „Südrussland“ mit Stolz nennen, ganz normal, gerade jetzt in Zeiten der Finanzkrise. So ist auf den breiten Straßen der Stadt auf den ersten Blick nichts von der Krise zu sehen. Die Autos – fast alle ausländischer Herkunft – drängeln sich auf den Straßen. Die Menschen scheinen alle irgendwie einer Tätigkeit nachzugehen, wenn auch nur für einige Tage oder in der Schattenwirtschaft. Wer allerdings bei den Händlern auf dem Zentralnij Rynok (Zentraler Markt) nachfragt, erfährt, dass die Umsätze um zehn bis zwanzig Prozent zurückgegangen sind.

Für die Kleinbauern aus der Region Rostow ist der Zentralnij Rynok die wichtigste Einnahmequelle. Hier kann können sie ihre zwei Schweinehälften verkaufen. Der Markt ist so etwas wie ein „soziales Projekt“, meint Marktdirektor Juri Mukowos. Mit seinen niedrigen Standmieten trage der „Rynok“ zur sozialen Stabilität in der Region bei.

Im letzten Jahr wurden auf dem Zentralen Markt 3.500 Tonnen Fleisch verkauft, das Geflügel noch gar nicht mit gerechnet, erzählt der Markt-Direktor. Das sei mehr als alle Supermärkte von Rostow zusammen verkaufen.

Mit drei Hektar Grundfläche ist der „Zentralnij Rynok“ einer der größten Freiluft-Märkte Russlands. 3.400 Händler verkaufen hier Fleisch, Gemüse, Milchprodukte und Kleidung aus China, Dubai und der Türkei. Hier handeln nicht nur Russen sondern auch Koreaner, Armenier, Aserbaidschaner, Kurden und Tataren. Gearbeitet wird auf dem Markt rund um die Uhr. Nachts kaufen die Großhändler, tagsüber läuft der Einzelhandel.

Das Kartoffel-Paradies

Dass sich mit guter Ware trotz Finanzkrise noch Geld verdienen lässt, sieht man auch in der Kartoffel-Abteilung des Marktes, wo die Händlerinnen – Männer sieht man nur im Hintergrund Säcke schleppen – ihre Ware auf langen Tresen in bunten Plastik-Eimern anbieten. Man kann zwischen 30 Kartoffensorten wählen. Davon können Moskauer nur Träumen. Von den großen Handelsmonopolen der Hauptstadt werden sie mit nur drei langweiligen Billigsorten versorgt.


Kartoffeln verkaufen ist in Russland immer noch ein Frauen-Job. Foto: Ulrich Heyden

Ein großer Teil der Kartoffeln auf dem Zentralen Markt von Rostow komme von Kleinbauern, meint Ira, eine ehemalige Lehrerin, die seit zehn Jahren „Kartoschki“ verkauft. Die Kleinbauern könnten durchaus mit der billigen Massenware von den Großbauern konkurrieren, erzählt die 42-jährige. Die von den Klein-Produzenten angebauten Edelkartoffeln, wie die längliche Amerikanka, die rosa-gelb gefleckte Iwan da Marja oder die dunkel-violette Ziganotschka (Zigeunerinchen) kosten zwar um die 30 Rubel (70 Cent) das Kilo. Aber die schmeckten auch doppelt so gut wie die billige Massenware von Großbetrieben, die 15 Rubel das Kilo kostet.

400-PS-Monster

Während der Handel auf dem Zentralen Markt in Rostow trotz Finanzkrise und sinkenden Einkommen der Bevölkerung immer noch gute Gewinne abwirft, bettelt die Mähdrescher-Fabrik Rostselmasch, der größte Arbeitgeber in Südrussland, wegen einer akuten Absatzkrise um staatliche Hilfen. „Das größte Problem ist, dass die Agrarbetriebe von den Banken keine Kredite bekommen,“ erklärte Rostselmasch-Pressesprecherin Tatjana Sakablukowa gegenüber dieser Zeitung. So ist die Produktion der 400-PS-starken Mähdrescher-Monster, die sich heute gegenüber einer starken Konkurrenz aus Nordamerika und Europa durchsetzen müssen, stark zurückgegangen.

Während 2008 noch 6.300 Mähdrescher gebaut wurden, waren es im Geschäftsjahr 2009 nur noch 4.200 Stück. Daran konnte auch Premier Wladimir Putin nichts ändern, der die Mähdrescher-Fabrik, die zu 65 Prozent in privater Hand ist – der Rest gehört dem Staat – in den letzten 12 Monaten zweimal besuchte. Als Sofortmaßnahme ließ der Regierungschef die Importzölle für ausländische Mähdrescher von fünf auf 15 Prozent anheben. Außerdem ließ Putin einen Kredit von 116 Millionen Euro bereit stellen, womit das staatliche Unternehmen Rosagroleasing bei Rostselmasch 1.000 Mähdrescher kaufte. Doch das frischte die Statistik der Fabrik nur notdürftig auf.

Die Arbeiter von Rostselmasch – sie verdienen normalerweise 22.000 Rubel (510 Euro) – müssen jetzt sehen, wie sie zurechtkommen. Ein Teil der Belegschaft arbeitet nur drei Tage die Woche, bei entsprechenden Lohneinbußen. Im letzten Winter wurden bereits 1.300 der insgesamt 7.000 Arbeitern entlassen. Wie es weitergehen soll, weiß niemand.

Es ist später Nachmittag. Vor der Straßen-Unterführung am Zentralen Markt von Rostow steht immer noch Maja und singt. Sie ist bester Stimmung. Das Piraten-Kopftuch ist mit Zehn-Rubel-Scheinen gut gefüllt. So war es immer in Russland. Krisen kommen und gehen. Und wer kann, schlägt sich durch.

Ulrich Heyden
ENDE

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