Medwedjew kritisiert Stalin-Nostalgie
(n-ost) – Nun hat sich auch Kreml-Chef Dmitri Medwedjew in die neue russische Debatte um Stalin eingeschaltet. In einem Video-Blog anlässlich des Gedenktages für die „Opfer der politischen Repression“ fand Medwedjew so deutliche Wort zum Stalin-Terror, wie sie Wladimir Putin nie gefunden hat. „Millionen Menschen starben in Folge des Terrors und lügenhafter Anschuldigungen“, erklärte der Kreml-Chef. Die Opfer des Terrors in den 1930er Jahren seien aller Rechte beraubt worden, sogar des Rechts auf eine „ehrenvolle, menschliche Bestattung“, rief Medwedjew in Erinnerung. Er hatte sich bereits im Präsidentschafts-Wahlkampf zu liberalen Werten bekannt. Das Argument der Stalin-Freunde, die zahlreichen Opfer seien wegen höherer staatlicher Ziele gerechtfertigt, will der russische Präsident nicht gelten lassen. Denn der Erfolg eines Landes könne nicht „zum Preis menschlichen Leids“ erreicht werden.
Diese klare Absage an jegliche Form von Stalin-Nostalgie ist nicht nur ein Lippenbekenntnis an einem nationalen Gedenktag, denn mit dieser Kritik an dem „Woschd“ („Führer“) Stalin, der in Russland heute wieder populär ist, kann der Liberale Medwedjew keine Pluspunkte auf der Popularitäts-Skala gewinnen. Im Dezember letzten Jahres war Stalin bei einer Abstimmung über den populärsten Russen immerhin auf Platz drei gekommen. Doch offensichtlich weiß Medwedjew, dass eine wirtschaftliche Modernisierung Russlands nur mit einem Mehr an Freiheit und einer Absage an Diktatur-Modelle zu haben ist.
Auf russischen Souvenier-Tischen wird wieder mit Stalin-Bildern gehandelt. Hier der Verkauf von Streichholzschachteln mit dem Porträt des „Woschd“ („Führer“) in der Stadt Jaroslawl. Foto: Ulrich Heyden
Mit seinen Äußerungen wagt Medwedjew nicht nur den Konflikt mit konservativen Teilen der Beamtenschaft, sondern auch mit weiten Teilen der Bevölkerung, die sich in Krisenzeiten wieder gerne an eine „starke Hand“ erinnern, die angeblich alles zum Guten richte. Die Wertschätzung Stalins drückt sich etwa in der Anweisung der Moskauer Metro-Verwaltung aus, in einer Kuppel der Station Kurskaja eine Strophe aus der Sowjet-Hymne wieder anzubringen, die Stalin huldigt. Dort soll sogar die Büste des Diktators wieder aufgestellt werden, um die Metro-Station originalgetreu wieder herzustellen.
90 Prozent unwissend
Die Verbrechen Stalins, die in der Perestroika-Zeit unter Michail Gorbatschow noch in Zeitungen und sogar auf Partei-Versammlungen breit diskutiert wurden, geraten zunehmend in Vergessenheit. Heute synbolisiert Stalin für viele Russen vor allem den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Diese Haltung gab es schon in den 1970er Jahren, als die Sowjetunion unter Breschnjew in einem Dämmerschlaf verfallen war, die so genannte Stagnations-Periode. Der Terror Stalins gegen die eigene Bevölkerung ist im öffentlichen Bewusstsein nur noch schattenhaft präsent. In den Medien sieht es ähnlich aus: Kaum ein Wort mehr über das Schicksal von Hunderttausenden Angehörigen deportierter Minderheiten, die Millionen Erschossenen und diejenigen, die in sibirischen Arbeitslagern verbraucht wurden.
Der Roman „Archipel Gulag“ des Schriftstellers Aleksandr Solschenyzin, der den Terror im Arbeitslager beschreibt, wurde jetzt zwar zur Pflichtlektüre in den Schulen. Parallel dazu gibt es aber russische Geschichtsbücher, in denen Stalin als „effektiver Manager“ beschrieben wird. Dass es insbesondere in der Jugend kein Wissen über den schrecklichen Terror unter Stalin gibt, macht offenbar auch Kreml-Chef Medwedjew Sorgen. Nach soziologischen Umfragen konnten fast 90 Prozent der jungen Russen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren keine Namen von bekannten Russen nennen, welche „in den Jahren der Repression gelitten haben oder gestorben sind“, erklärt der russische Präsident in seinem Video-Blog.
Zwei Regierungs-Modelle im Kaukasus
Mit seiner Kritik an der Stalin-Nostalgie hat Dmitri Medwedjew erneut gezeigt, dass er zu liberalen Grundsätzen steht. Schon im Präsidentschaftswahlkampf hatte der Putin-Nachfolger erklärt, dass Russland mehr Freiheit und Selbstverantwortung brauche, wenn es sich zu einer modernen Nation entwickeln will. Allerdings gibt es bisher erst ein konkretes Politik-Gebiet, wo Medwedjew seinen Worten auch Taten folgen lässt. In der Kaukasusrepublik Inguschetien, wo russische Sicherheitskräfte in brutalen Säuberungsaktionen gegen Islamisten eine Klima von Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreiteten, schränkte Medwedjew den Spielraum für Willküraktionen ein, indem er im Oktober 2008 Junus-bek Jewkurow zum neuen Präsidenten Inguschetiens ernannte. Der ehemalige Offizier der Militärabwehr versucht den gewaltbereiten islamistischen Untergrund jetzt durch Überzeugungsarbeit zur Aufgabe zu überreden. Jewkurow verspricht allen, die die Waffe niederlegen, einen „fairen Prozess“. Damit grenzt sich der neue Präsident Inguschetiens deutlich von Ramsan Kadyrow ab. Der von Wladimir Putin eingesetzte Präsident Tschetscheniens hat in „seiner“ Kaukasusrepublik ein Regime errichtet hat, in dem Todesschwadrone freie Hand haben.
Ulrich Heyden
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