Mit Gandhi gegen den Teufelskreis
Roma und Bildung - das klingt wie ein Gegensatz. Auch Csaba Kalanyos behauptet das. Das sei wie Tag und Nacht, sagt er. „In Ungarn gehen Roma vielleicht noch in die Grundschule, aber danach suchen sie nach Arbeit und heiraten.“ Kalanyos sagt das, obwohl er es eigentlich besser wissen müsste. Denn der 19-Jährige mit dem Kurzhaarschnitt und dem runden Gesicht ist selbst ein Roma. Und er steht kurz vor dem Abitur. Gerade hat er die letzte Schulstunde des Tages hinter sich. Nun steht er in einem lichtdurchfluteten Klassenzimmer, an der Wand hinter ihm ein handgeschriebenes Plakat mit den Namen großer ungarischer Dichter wie Attila Jozsef und Balint Balassy. Ihre Gedichte kennt Kalanyos gut. Für seine Literatur-Arbeit hat er soeben eine Vier bekommen, die zweitbeste Note im ungarischen Schulsystem. Roma und Bildung. In Kalanyos’ Fall ist das kein Widerspruch.
Csaba Kalanyos ist einer von rund 270 Schülern am Gandhi-Gymnasium in der südungarischen Stadt Pecs nahe der kroatischen Grenze. Die Schule ist das erste Gymnasium Europas, das von Roma gegründet wurde und mehrheitlich von Roma besucht wird. Ins Leben gerufen wurde sie vor 15 Jahren von Janos Bogdan. Der Intellektuelle wollte eine neue Schicht qualifizierter Roma heranbilden. Sein Gedanke: Die jungen Roma machen an der Gandhi-Schule Abitur, ziehen weiter an die Universität und vertreten später als Juristen, Ärzte oder Politiker Roma- Interessen. Dass die Ethnie seit der EU-Osterweiterung zur größten Minderheit im vereinigten Europa geworden ist, gibt dem Anliegen Bogdans heute noch mehr Gewicht. Etwa sechs Prozent der zehn Millionen Ungarn sind Schätzungen zufolge Roma.
Welche Werte das Gymnasium in Pecs vertritt, zeigt schon der Name: Mahatma Gandhi (1869–1948) war der geistige Führer der Unabhängigkeitsbewegung in Indien. In seinem Land sollen die Roma ihre Wurzeln haben. Und auf diese Wurzeln sollen sich die Schüler besinnen. Das wird ihnen auch in den Klassenzimmern vor Augen geführt. Sprichwörtlich. Malereien von Pferden, Kutschen und Korbflechtern zieren hier die Wände. Auf dem Lehrplan stehen neben einer Fremdsprache – Deutsch oder Englisch – Roma-Dialekte wie Lovari und Beasch. Zudem lehrt und lernt man dort die Geschichte und Kultur der Roma.
Das Gymnasium sei aber offen für alle, versichert die Direktorin Erika Csovcsics. Die blonde Frau mit der sanften Stimme ist selbst keine Roma. Die Schulleitung übernahm sie 1999, nach dem Unfalltod ihres Ehemannes und Schulgründers Janos Bogdan. „Wer bereit ist, die romaspezifischen Pflichtfächer zu lernen, ist herzlich willkommen.“ De facto haben aber nur etwa ein Dutzend der Schüler keine Roma-Wurzeln. Es sind vor allem Jugendliche, die schon in ihrer Kindheit mit Roma befreundet waren. Wenn Csovcsics über den Anspruch der Schule spricht, sagt sie Sätze wie: „Wir sind kein Sozialprojekt.“ Oder: „Wir bieten Qualität und erwarten das Gleiche von unseren Schülern.“ Oder: „Soziale Benachteiligung ist keine Ausrede für schlechte Noten.“ Damit stellt sie unmissverständlich klar: Das Gandhi-Gymnasium ist kein Auffangbecken für Roma-Kinder, die an anderen Gymnasien – aus welchen Gründen auch immer – gescheitert sind. Die Gandhi-Schule fördert eine geistige Elite.
Deshalb sucht die Schulleitung ihre Zöglinge ganz genau aus. Auf jeden Platz in der Schule kommen jährlich zwei bis drei Bewerber. Die meisten von ihnen werden zu Gesprächen eingeladen und dabei auf ihre Konzentrationsfähigkeit getestet. Auch die Gründe für die Bewerbung sind wichtig. „Wir müssen sehen, ob die Motivation stimmt“, sagt Csovcsics. Um die Richtigen zu finden, schwärmt das Kollegium alljährlich in die traditionellen Roma-Gegenden aus. Sie fahren in die Region um die Industriestadt Miskolc im Nordosten, in den 8. Budapester Bezirk Joszefvaros oder ins Umland von Pecs.
Auch Hidas, eine halbe Autostunde von Pecs entfernt, ist so ein Ort, wie er auf der Liste des Auswahlkomitees stehen könnte. Rund 130 seiner 2500 Einwohner sind Roma. Die meisten von ihnen leben oberhalb der Hauptstraße ein paar hundert Meter den Hang hinauf. Um zu ihnen zu gelangen, muss man an den Häusern der „ungarischen Ungarn“ vorbei bis an den Rand des Ortes. Hier oben leben 19 Roma-Familien. In einer Sackgasse. Seit der Entstehung der Siedlung vor mehreren Jahrzehnten ist die Müllabfuhr noch kein einziges Mal über ihren brüchigen Asphalt gerollt. Die meisten Backsteinhäuser entlang der Gasse sind unverputzt. Auf einer Bank unter einem Obstbaum sitzt ein Mann, eine Selbstgedrehte in der Rechten, eine gelbe Fliegenklatsche in der Linken. Doch die Fliegen an seinem Hosenbein müssen nichts fürchten. Der Fusel hat den Jäger sanft gemacht. Ganz anders dagegen seine Frau. Sie steht am Hauseingang, den linken Arm in die Hüfte gestemmt und schimpft. Es regne durchs Dach, und die Toilette sei immer noch nicht an die Kanalisation angeschlossen.
Sándor Orsos kennt diese Beschwerden. Sie gehören für ihn zum Alltag. Als Leiter der ethnischen Selbstverwaltung in Hidas ist er das Sprachrohr der Roma bei den Behörden. Die meisten hier oben, erzählt Orsos, schlügen sich als Tagelöhner in der Land- oder Bauwirtschaft durch. Andere lebten von der Sozialhilfe. Ihr Lebensentwurf ist traditionell, die Kinder zahlreich. Orsos selbst hat neun Kinder – „von fünf Frauen“. Ein Gymnasium hat er nicht besucht. Er fing schon als Jugendlicher an zu arbeiten.
Als das Gespräch auf das Gandhi-Gymnasium kommt, nickt Orsos. Er selbst habe einige Kinder für die Vorzeigeschule angeworben. Auch aus dem Nachbardorf sei einer auf das Gymnasium gegangen. Der arbeite jetzt in England. Was genau, das wisse er nicht. Dann erzählt Orsos von den Anfängen des Gymnasiums, von dem Unverständnis, mit dem die Bevölkerung dem Experiment begegnet sei. Die Nachbarschaft habe gemunkelt, die Roma-Kinder würden in der Schulkantine mit den Händen essen, dass sie Messer und Gabel einfach liegen ließen, weil sie damit nichts anzufangen wüssten. Nach den ersten erfolgreichen Abiturjahrgängen sei die Akzeptanz aber gestiegen, sagt Orsos.
Im Gandhi-Gymnasium hat Schulleiterin Csovcsics derweil zum Gespräch in die Bibliothek geladen. Die Bücherei ist neben dem 2002 eröffneten zweiten Gebäudekomplex mit großzügiger Sporthalle und Grünflächen das Prestigeobjekt der Schule. In den Regalen stehen deutsche Titel wie „Basiswortschatz im Griff“ oder „Das tägliche Fremdwort“. Sie sehen immer noch aus wie neu. Es sind Spenden aus dem Ausland. Die Bibliothek wurde 2004 mit Hilfe des Goethe-Instituts errichtet. Im Ausland, so scheint es, hat die Schule einen besseren Ruf als daheim. Auch 15 Jahre nach der Gründung dächten in Ungarn noch viele, dass am Gandhi-Gymnasium nur Gesang und Tanz gelehrt würden, erklärt Csovcsics.
Einen wesentlichen Teil seines Geldes bekommt das Gymnasium jedoch aus der Staatskasse, und das macht die Einrichtung angreifbar für Kritik: „Mindestens zehn Schulen könnten mit dem Geld betrieben werden“, kritisiert etwa Viktoria Mohacsi. Die Ungarin hat sich in den vergangenen fünf Jahren als liberale Abgeordnete im Europäischen Parlament für Minderheitenrechte eingesetzt. Was ihre Kritik noch erstaunlicher macht: Mohacsi ist selbst eine Roma. „Wenn die Gandhi-Schule nicht so teuer wäre, könnte sie vielleicht als Modell dienen. Aber selbst dann wäre ich dagegen, weil sie nicht integrativ ist“, erklärt Mohacsi. Damit spricht sie auch ihr Hauptanliegen an: De-Segregation oder die Aufhebung der ethnischen Trennung hat sich die 34-jährige Politikerin auf die Fahne geschrieben. Noch bevor sie ins Straßburger Parlament ging, boxte sie in Ungarn eine Reform des Bildungsgesetzes durch. Jetzt ist es verboten, Roma-Kinder in gesonderte Klassen zu stecken.
„Eine große Zahl von Roma-Kindern werden von vornherein als dumm abgestempelt und auf Sonderschulen geschickt. Damit ist es ihnen nahezu unmöglich, nach der Grundschule auf ein Gymnasium zu gehen. Dann können sie eigentlich nur noch Straßenkehrer werden“, sagt Mohacsi. Die Akademikerin gesteht jedoch ein, dass es auch nach ihrer Gesetzesinitiative noch mehrere Hundert illegale „Ghetto-Schulen“ in Ungarn gibt, an denen Roma für sich ihr ABC lernen.
Den Vorwurf der mangelnden Integration weist Schulleiterin Csovcsics jedoch zurück. „Integrative Schulen und ethnische Schulen dürfen nicht als Gegensatz aufgefasst werden.“ Auf herkömmlichen Schulen würden Roma-Kinder oft in die hinterste Reihe gesetzt oder auf andere Art diskriminiert. Die Gandhi-Schule bereite Roma dagegen auf eine Eingliederung in die Gesellschaft vor. „Hier erhalten sie spezielle nötige Zuwendung, um sich später zu integrieren.“ Und die Zuwendung bedeutet in den meisten Fällen auch eine Ganztagsbetreuung. Denn die Mehrheit der Gandhi-Schüler lebt in der Woche im angeschlossenen Internat, und nachmittags nehmen viele von ihnen an Tanz-, Mal- und Sportkursen teil.
Ist die Gandhi-Schule also eine Erfolgsgeschichte? Kann Sie den Teufelskreis aus Unbildung, Armut und Diskriminierung durchbrechen, in dem sich viele Roma befinden? Zumindest kann sie einen Beitrag leisten, glaubt Csovcsics. Die Zahl der Schulabbrecher sei seit der Gründung des Gymnasiums stetig gefallen. Von den bislang 250 Abiturienten sind nach Angaben der Direktorin 70 Prozent auf eine Universität gegangen oder haben eine Ausbildung begonnen. Einige müssen das Studium zwar wieder abbrechen, weil sie für den Lebensunterhalt ihrer Familie sorgen müssten, so Csovcsics. Aber andere schafften es dann doch, und von denen profitiert sogar eine große Kritikerin der Schule. Die Europa-Abgeordnete Mohacsi hat in ihrem Budapester Büro einen früheren Gandhi-Schüler eingestellt. Andere Ehemalige sind als Lehrer – und Vorbild – an das Gandhi-Gymnasium zurückgekehrt. Dort sind insgesamt acht der 26 Lehrkräfte Roma. Wie groß der gesamtgesellschaftliche Einfluss der Gandhi-Schüler sein wird, bleibt derweil abzuwarten. Dazu existiert die Schule noch nicht lange genug.
Csaba Kalanyos will auf jeden Fall sein Abitur an der Gandhi-Schule machen. Danach plant er wieder in den Südosten Polens zu gehen, wo er schon einmal als Freiwilliger eines Hilfsprojekts Häuser restauriert hat. Wie seine weitere Ausbildung aussehen solle, wisse er noch nicht so genau, sagt er. Sein bester Freund Gabor hat aber schon konkretere Pläne. Er will Jura studieren und Rechtsanwalt werden. Dafür hat er auch schon ein vierjähriges Stipendium in der Tasche. Es soll in die USA gehen. Nach Harvard.