Ein Pass ins Glück
Sergiu Teleuta sitzt vor einem Stapel Dokumente. Geburtsurkunde, Studiendiplome, Ausweise, Papiere seiner Vorfahren. Hartnäckig hat er sie nach und nach bei der rumänischen Migrationsbehörde in Bukarest eingereicht. „Vielleicht verbrenne ich sie“, scherzt der junge Mann, jetzt, wo er am Ziel ist: Er hat die rumänische Staatsbürgerschaft erhalten. Neun Jahre sind dafür vergangen.
Der 29-Jährige hätte auch andere Wege im Leben einschlagen können: zum Beispiel in der moldauischen Hauptstadt Chisinau bleiben, wo er die Kunstschule absolvierte. Seine Jobmöglichkeit: Kunstlehrer. Monatsgehalt: 30 Dollar. „Das wäre“, sagt Teleuta, „pure Armut gewesen.“ Er hätte auch, wie bereits rund 600.000 andere Moldauer, in Russland oder in Westeuropa jobben können: „Dort bekommt man als Ausländer oft zumeist nur unqualifizierte Arbeiten“. Er entschied sich für einen Studienplatz im Nachbarland, dessen Sprache er spricht und bewarb sich parallel für einen Pass.
Warten seit den frühen Morgenstunden: Oft reist man mit einem Nachtbus aus Moldau an und fährt abends wieder zurück. Für die Einreise brauchen Moldauer seit 2007 ein Visum, denn Rumänien bildet seit dem Beitritt einen Teil der EU-Außengrenze. Foto: Annett Müller
Dass Moldauer vorzugsweise eine rumänische Staatsbürgerschaft erhalten können, hat historische Gründe. Beide Länder gehörten zwischen den Weltkriegen zusammen - 22 Jahre lang. Ein Großteil der Moldauer besitzt somit heute den Status von Auslands-Rumänen. Hinzu kommt, dass seit 2007 ein rumänischer Pass ein EU-Pass ist, eine Möglichkeit für viele, schon vor dem eigenen Land der Union beizutreten.
In der Bukarester Migrationsbehörde gibt es kein Wartezimmer. Gewartet wird im Freien - ob bei Hitze, Regen oder Kälte. Vor dem Amt, das nur einmal pro Woche geöffnet hat, drängen sich Hunderte Menschen, um entweder ein- oder auszuwandern. Ein kleines Zimmer dient als Auskunftsbüro. Im Raum lagern unzählige Papierakten, dazwischen sitzen drei Behördenmitarbeiter an ihren Schreibtischen. Die Moldauer blicken hoffnungsvoll, die rumänischen Beamten hingegen geschäftig. Weil die entsprechende Software fehlt, wird vieles per Hand ausgefüllt.
„Ihr Antrag ist gerade in Arbeit“, heißt es oftmals nur als Auskunft. Bis wann, wird nicht gesagt. Wer dennoch fragt, erhält einen verständnislosen Blick der Beamten. Die meisten schweigen dann, zumal sie sich als Bittsteller fühlen. Ganz anders verhalten sich hingegen Rumänen, die im Amt ihre Auswanderung aktenkundig machen wollen. „Sie haben uns ausgelacht, dass wir uns um einen rumänischen Pass bewerben“, erinnert sich Sergiu Teleuta, „und uns erzählt, wie froh sie seien, ihn endlich loszuwerden.“
Der junge Moldauer hat indes alles daran gesetzt, ihn zu bekommen. Vor allem jungen Leuten erscheint ihr Land, in dem bis vor kurzem eine kommunistische Nomenklatura herrschte, hoffnungslos. Aufstiegsmöglichkeiten gab es bisher nur für jene, die politisch konform waren oder ausreichend Beziehungen hatten. Erzählt Teleuta von zu Hause, klingen die Geschichten absurd. „Wenn ich mit einem rumänischen Auto-Kennzeichen einreise, werde ich zig Mal von der Polizei angehalten und muss für erfundene Strafen zahlen. Cash und ohne einen Strafzettel“, sagt der junge Mann, „schließlich stecken sich die Beamten das Geld umgehend in die eigene Tasche.“
Ein Siebtel der insgesamt 3,5 Millionen Moldauer könnten sich - Schätzungen des Bukarester Justizministeriums zufolge - in den nächsten Jahren um die rumänische Staatsbürgerschaft bewerben. Ihnen hat im Frühjahr der rumänische Staatschef Traian Basescu ein deutlich kürzeres Einbürgerungsverfahren versprochen. Von Antragstellung bis Passbesitz sollen nur fünf Monate vergehen. Solche rumänischen Willkommenssignale sind in den vergangenen Jahren rar gewesen. Den Bukarester Politikanalysten Armand Gosu verwundert das nicht: „Wenn Dich jemand betrügt, den Du sehr liebst, verwandeln sich die Liebesgefühle vor allem in Desinteresse.“
So hatte Rumänien Anfang der 90er Jahre dem Nachbarland neben zahlreichen Hilfsangeboten auch eine Wiedervereinigung vorgeschlagen, das deutsche Modell sollte Pate stehen. Die Moldauer lehnten in einem Referendum mehrheitlich ab. Vielmehr plädierten sie für einen selbstständigen Staat, der inzwischen jedoch wirtschaftlich zu großen Teilen von Russland abhängig ist. Mehr als 90 Prozent der Energieversorgung kommt allein von dort. Daran wird auch das als prowestlich geltende neue Koalitionsbündnis nichts ändern können, das bei den jüngsten Parlamentswahlen im Juli gewonnen hat. Es tritt vielmehr ein schweres Erbe an, will es den Machtfilz der bisherigen kommunistischen Nomenklatura tatsächlich auflösen und will es den wirtschaftlichen Kollaps des Landes abwenden. Ein EU-Beitritt liegt indes in weiter Ferne, da der Konflikt um die abtrünnige Region Tranistrien im Landesinneren bislang unlösbar scheint.
12.000 Moldauern will das rumänische Justizministerium in diesem Jahr den Pass zuerkennen. Das wären doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Doch bei diesem Tempo würde es für alle potenziellen Bewerber mehr als 40 Jahre dauern. „Mit einer Invasion von Moldauern ist wegen der rumänischen Bürokratie nicht zu rechnen“, meint Bukarester Soziologe Dan Dungaciu. In den EU-Ländern stößt die angekündigte Pass-Beschleunigung hingegen auf Kritik. Tschechien und Österreich mahnten Bukarest bereits „zur Vorsicht“ bei der Umsetzung der Regelung an. Der Soziologe Dungaciu kann die westliche Angst nicht verstehen. Für ihn ist der EU-Pass eine Art Rückkehr-Ticket, mit dem die Moldauer eines Tages wieder mit neuem Selbstbewusstsein in ihre Heimat zurückgehen könnten: „Mit einem EU-Pass in der Tasche werden einen die moldauischen Behörden - egal ob sie kommunistisch sind oder nicht - definitiv nicht mehr so unterdrücken können.“
Der 30-jährige Moldauer Mihai Radu harrt geduldig vor der Migrationsbehörde aus. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen, „um keine Nachteile zu haben“. Die Angst, dass eine freie Meinungsäußerung wie in Moldau Folgen haben könnte, sitzt tief. Nur noch einmal im Jahr fährt Radu nach Hause, der Mutter wegen, die er allein zurückgelassen hat. Solch eine Konstellation gibt es tausendfach in der Moldau. Man will den Daheimgebliebenen finanziell etwas bieten und zahlt dabei den Preis zerrissener Familienbande. Auch in Rumänien macht man diese Erfahrung seit langem, knapp drei Millionen Menschen sind seit der Wende ausgewandert. Dass es damit dem Land seit Jahren akut an Fachkräften mangelt, kam vielen Moldauern gelegen. Mihai Radu hat vor fünf Jahren in Bukarest eine Stelle als IT-Spezialist gefunden - auch ohne Pass und vorerst nur mit einer Aufenthaltsgenehmigung.
Die moldauischen Arbeitskräfte sind in Rumänien beliebt, weil sie rumänisch sprechen, billiger sind als einheimische Arbeiter und aus einer geschichtlichen Nostalgie heraus, in Rumänien als „Brüder“ gelten. Die Wirtschaftskrise könnte diese Stimmung allerdings zum Kippen bringen, meint Soziologe Dungaciu. „Werden die Moldauer eines Tages auf dem Arbeitsmarkt als Konkurrenz wahrgenommen, wird Wirtschafts-Chauvinismus herrschen statt Offenheit.“ Daran mag Mihai Radu vorerst nicht denken. Er hat seinen Pass beantragt, um langfristig in Bukarest zu bleiben. Schließlich ist Rumänien verglichen zur Republik Moldau schon der Westen für ihn. „Meine Kollegen beklagen sich immer, wie korrupt Rumänien ist, dann antworte ich jedes Mal: ‚Ihr habt wohl noch kein wirklich armes Land gesehen?‘“
An eine Rückkehr in die Moldau denkt vorerst auch Sergiu Teleuta nicht. Er jobbt in Bukarest als Raumdesigner, kann sich eine Wohnung und einen Kleinwagen leisten und mit dem EU-Pass weltweit reisen. Alles Dinge, die in seinem Heimatland Moldau unter Glück zählen, im Westen ist das Alltag. Was er mit all den Einbürgerungsdokumenten wohl machen wird? „Vermutlich aufheben“, sagt Teleuta und schmunzelt, „sonst glaubt mir später mal keiner, dass ich so lange nach Europa gebraucht habe“.