Moldawien

Generation Aufbau wartet auf ihre Chance

Laut schreien sonnenverbrannte Arbeiter mit Plastiktüten, Angestellte in grauen Anzügen mit Aktentaschen und dicke Marktweiber in ihr Handy, dass sie auf dem Weg nach Hause seien. Es riecht nach Alkohol, Zigarettenqualm und Schweiß. Kurz vor neun Uhr am Abend ist der Bus aus der Hauptstadt der Republik Moldau Chisinau in den kommunistischen Norden, nach Balti, bis auf den letzten Stehplatz gefüllt. Die Fahrt dauert zweieinhalb Stunden. Alle Fahrtziele sind in rumänischer Sprache auf dem Schild am Bus gedruckt. Mit schwarzem Filzstift hat jemand „Balti“ in kyrillischen Buchstaben ergänzt.

Balti, wörtlich übersetzt Sumpf, feiert am nächsten Tag seinen 588. Geburtstag. Mit einer Parade, Schaschlikbuden und Folklorekonzerten. Alle, die in anderen Städten arbeiten, kommen an diesem Tag heim. Es ist einer der drei Tage, an denen der Springbrunnen in der Fußgängerzone sprudelt und vor dem Denkmal Stefans des Großen zwei Soldaten mit Fähnchen am Gewehr stehen. Die „Stimme Baltis“, die örtliche Zeitung, dankt der Kommunalverwaltung, den Unternehmen, Organisationen und den Stadtbewohnern für die positiven Veränderungen in der Stadt.

Davon spürt Alina, 25, verheiratet, von Beruf Übersetzerin und Mutter eines  sechsjährigen Sohnes, nichts. Schon vor zwei Jahren hat sie ihre Papiere in die kanadische Botschaft gebracht, um irgendwann auswandern zu können. Sie sagt, der Berufseinstieg sei in Moldau ohne Kontakte nicht möglich und der Verdienst lächerlich gering. Blitzschnell rechnet sie ihre monatlichen Kosten von der einheimischen Währung Leu in Dollar und Euro um und wieder zurück. Der offizielle Verdienst deckt im Winter nicht einmal die Heizkosten. Von Aushilfsjobs hat Alina genug. Sie will in einer französischen Region Kanadas Dokumente ins Englische übersetzen.

Alina ist eine Ausnahme, denn eigentlich ist für Moldauer Russland Hauptemigrationsland. Nach Angaben des russischen Migrationsamts soll sich ein Viertel aller Moldauer in Russland aufhalten.
Vor allem die jüngere Generation steht unter einem ungeheureren Migrationsdruck. Die Männer arbeiten in Russland und Portugal auf dem Bau, die Frauen im Dienstleistungssektor in Italien und der Türkei. An Baltis wichtigstem Tag im Jahr sind viele junge, gut ausgebildete Menschen, die neben Rumänisch und Russisch noch mindestens eine weitere Fremdsprache aktiv sprechen, unterwegs. Zum Teil sind das Heimaturlauber, zum Teil jene, die vom Ausland träumen.

So wie Helena, 21. Sie studiert Deutsch und Französisch und lernt oft von morgens bis nachmittags in der Uni. Ihre Hobbys sind Freunde treffen und am Wochenende ausgehen – „nicht oft“, wie sie gleich ergänzt. Ab und zu geht sie auch ins Schwimmbad. Helena liebt ihr Land, „so wie es ist, so arm“. Dass sie später mal im Ausland arbeiten wird, schließt sie dennoch nicht aus.

Helenas deutsches Lieblingswort heißt Freiheit. Sie bringt es beinahe in jedem Satz unter. Aus dem Internet weiß sie, dass die deutschen Studenten frei sind, ihren eigenen Stundenplan zusammenzustellen, frei sind, sich an der Hochschulpolitik zu beteiligen und frei sind, ihre Meinung zu äußern. „Vielleicht erleben ja meine Kinder und Enkelkinder eine andere Gesellschaft“, sagt Helena. „Jedenfalls darf man nicht aufgeben.“

Trotzig klingt das. Und Trotz braucht wohl auch, wer in Moldau etwas verändern will. In Balti steht an diesem Tag die kommunistische Führung mit Leibwächtern und Priestern auf einem mit einer blauen Markise überdachten Podest vor der Ehrentribüne am Rathaus. Sie nimmt mit strengen Blicken die Parade ab. Im Stadtplan sind Lenin, Marx und Engels an der Rathausfassade wegretuschiert.

Ganz am Ende der Straße steht Lydia Stupaschenko, 62, und schaut auf die knatternden Oldtimer als Schlusslicht der Parade. Sie hat ihre Träume verwirklicht. Im Dorf geboren, studierte sie in Moskau Pädagogik und Psychologie, arbeitete sich von der Hochschullehrerin zur stellvertretenden Dekanin an Baltis Universität hoch und unterrichtet immer noch. Jetzt heißt ihr Fach Soziale Arbeit. Sie erinnert sich an nur zwei ihrer Studenten, die heute in diesem Beruf arbeiten – einer in einer lokalen Nichtregierungsorganisation, die sich der Aidsaufklärung widmet, und der andere in der Verwaltung der Nachbarstadt. „Ja, es ist schwierig, in Balti eine Arbeit zu finden“, sagt sie.

Ihre Kollegen, ein Ehepaar über 70 Jahre, kennen das Leben in Balti noch, als ein Liter Benzin so teuer wie ein Glas Wasser war, wohlgemerkt ohne Sirup. „Wir hatten nie Angst, keine Arbeit zu finden“, sagen die beiden. Heute sei ihr Land eine wilde Welt, die sie nicht verstehen. Jetzt wird sogar die Petersilie importiert. Und wer sich die Apfelpreise ausdenkt, würden sie auch gern wissen.

In der Sowjetzeit war das Land ein blühender Obst- und Gemüsegarten mit strategisch angesiedelter Leichtindustrie. Es gibt die Legende, dass als Gott die Erde verteilte, der Moldauer gerade auf dem Feld war und für seinen Fleiß die besten Böden bekommen hat.  Fährt man heute im Sommer durch Moldau, geht die Fahrt durch grüne Hügel, vorbei an mit Holzschnitzereien verzierten Brunnendächern in Dörfern, in denen im Vorgarten eine Kuh oder eine Ziege weidet und in denen am Straßenrand Sand- und Steinhaufen zeigen: Es wird angebaut.

Aber nur für den Eigenbedarf. Maxim Pijevskii, Projektkoordinator Landwirtschaft bei der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit in Moldau, versucht dies zu ändern. Er bietet Seminare zu den Themen Erdbeeren und Kartoffeln an, nicht ,weil die Bauern nichts über den Anbau wissen. Es geht um modernes Saatgut und moderne Bewässerungsmethoden. Die Bauern sollen mehr Produkte verkaufen. „Wir bringen die Bauern zusammen, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, aber das Misstrauen sitzt tief. Bei dem Wort Zusammenschluss haben die Bauern noch die Reste der Kolchosen vor Augen, die im Land vor sich hinrosten. Ein Mentalitätswandel braucht Zeit.“

Dass der Wandel Zeit braucht, kann Nora, Ende 20, Kulturmanagerin, nicht mehr hören. „Schon vor zehn Jahren haben sie mir gesagt, es wird alles anders, aber bisher haben die kommunistischen Strukturen immer überlebt.“ Bei den letzten Wahlen protestierten die Studenten für ein modernes Moldau. Der Protest eskalierte. Gerade werden das damals belagerte Parlamentsgebäude und der Präsidentenpalast aufwendig renoviert. „Du kannst mit dem Bus an den Baustellen vorbei fahren, dann schimpfen die Älteren: Schaut euch das an, das ward ihr.“

In den Tagen, als E-Mails aus Moldau mit revolutionären Grüßen endeten, hat Nora in Chisinau eine moderne Tanzaufführung organisiert. Es ging um die Frage nach der moldauischen Identität und vor allem ging es darum, überhaupt Fragen zu stellen. Die deutsche Choreografin des Stücks fragte sich, warum für die schick zurechtgemachten Moldauer der Haarschnitt so wichtig ist. Die russischen Tänzer fragten nach dem Unterschied zwischen Kunst und Unterhaltung.

Nora, die Organisatorin, fragte nach der Zukunft Moldaus, nach der Möglichkeit, von der zweiten in die erste Welt aufzusteigen. Sie sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Moldau kritisch und pessimistisch. Sozialen Zusammenhalt gebe es nicht, es habe ihn seit 1991 nie gegeben. Nach drei ausverkauften Aufführungen sieht Nora ihre Zukunft im Ausland. Im Sommer tritt sie eine befristete Stelle als Produktionsassistentin in Wien an, nebenbei lernt sie für einen Englischtest, mit dem sie im Ausland arbeiten kann.

Dabei hat Nora ihr Tanzprojekt unter ein positives Motto gestellt: side under construction. Diese Meldung erscheint im Internet, wenn eine Homepage gerade neu aufgebaut wird. Gedanken an die „Republik Moldau im Aufbau“ zu wecken, war ihr Ziel.


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