STALIN-ENKEL KLAGT GEGEN OPPOSITIONSBLATT
Das Moskauer Basmanij-Gericht muss jetzt entscheiden: Ist Stalin ein Held oder ein Verbrecher?
(n-ost) – Am 8. Oktober wird erneut über eine Klage des Stalin-Enkels Jewgeni Dschugaschwili verhandelt. Sein Großvater – so Jefgeni Dschugaschwili – sei durch einen Artikel in der Kreml-kritischen Nowaja Gazeta verunglimpft worden. Der Stalin-Enkel, der mit seinem markanten Gesicht Großvater Iosif ähnlich sieht und bereits in einem Film die Rolle des Generalissimus gespielt hatte, fordert von der Zeitung eine Entschädigung in Höhe von 230.000 Euro. Die Verhandlungen waren Mitte September vertragt worden, nachdem sich Star-Anwalt Genri Resnik, der die angeklagte Nowaja Gazeta vertritt, Zeit für das Aktenstudium erbeten hatte. In einer Sonderausgabe der Nowaja Gazeta zum stalinschen Gulag-System hatte der Journalist Anatoli Jablokow geschrieben, unter Stalin und den Tschekisten vom Geheimdienst seien „Ströme von Blut“ geflossen. Jablokow forderte von der russischen Militär-Staatsanwaltschaft die Herausgabe der Dokumente über das Massaker von Katyn, bei dem mehrere Tausend polnische Offiziere in einem Wald bei Smolensk von sowjetischen Soldaten erschossen worden waren. Der 73 jährige Kläger ist der Sohn von Jakow Iosifowitsch Dschugaschwili, einem Sohn Stalins, der in deutsche Gefangenschaft geriet und 1943 im KZ Sachsenhausen starb. Der Kläger hält seinen Großvater in Ehren. Unter Stalin sei das Leben „lustiger“ gewesen, sagte Jefgeni in einem Interview, und die Menschen hätten noch an eine Zukunft geglaubt. Die Nowaja Gazeta bereitet sich seit Wochen zusammen mit der Menschenrechtsorganisation Memorial auf den Prozess vor. Der Prozess biete die Chance, nun endgültig vor Gericht feststellen zu lassen, dass Stalin ein Verbrecher war, hofft Arsenij Roginski, Vorsitzender der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Seit 20 Jahren beschäftigt sie sich mit der Aufarbeitung der Stalin-Verbrechen. Eine eindeutige juristische Beurteilung des Terror-Regimes gibt es in Russland bis heute nicht.
Touristen-Stand in Jaroslawl: Souvenir-Verkäufer haben heute wie selbstverständlich Stalin-Bilder im Angebot. Foto: Ulrich Heyden
Indes ist Stalin in Russland zum Kultobjekt geworden. Souvenir-Verkäufer haben Bilder von Stalin im Angebot, wie etwa bei Andrej (Name geändert), der in der Touristenstadt Jaroslawl Streichholzschachteln und mit Stalin-Porträts an Touristen verkauft. „Die werden vor allem von Jugendlichen gekauft“, sagt der Souvenir-Verkäufer, „für die ist Stalin einfach nur ein starker Führer.“Im vergangenen Jahr gelangte Stalin bei einer Internet-Abstimmung über die „bedeutendsten Persönlichkeiten Russlands“ auf Platz drei. Nach Meinung des Memorial-Vorsitzenden Arseni Rogisnki verbinden die Russen mit Stalin vor allem die Epoche des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg (dem Zweiten Weltkrieg). Der Kreml hat seit langem erkannt, dass der Sieg Russlands im Zweiten Weltkrieg für die Russen heute das wichtigste nationale Erbe ist. Kreml-Chef Dmitri Medwedew berief jüngst eine Historiker-Kommission ein, die „Verfälschungen der Geschichte“ verhindern soll. Dazu zählt er unter anderem die Behauptung, Stalin habe den Zweiten Weltkrieg entfesselt. Doch die Haltung des Staates zu Stalin ist zwiespältig. Einerseits gibt es an Schulen Geschichts-Lehrbücher, in denen Stalin als „guter Manager“ beschrieben wird. Russische Menschenrechtler waren geschockt, als Ende August die Renovierungsarbeiten in der Moskauer Metro-Station Kurskaja abgeschlossen waren und in der Metro-Kuppel wieder ein Stalin-Zitat prangte, das nach dem Tod des „Generalissimus“ beseitigt worden war. Hoch oben in der Metro-Kuppel liest man nun wieder eine Zeile aus der sowjetischen Nationalhymne: „Uns hat Stalin großgezogen, in Treue zum Volk, er inspirierte uns zur Arbeit und zu Heldentaten.“ Doch andererseits ist die Einschätzung einiger Experten, der Kreml wolle das dunkelste Kapitel der russischen Geschichte in der Versenkung verschwinden lassen, um in Russland eine Art stalinistisches Regime zu errichten, unrealistisch. Im Oktober 2007 legte Putin auf der Gedenkstätte Butowo, im Süden von Moskau, wo Ende der 1930er Jahre Tausende von Geistlichen, Geschäftsleuten und vermeintliche „Verräter und Spione“ erschossen wurden, einen Kranz nieder. Das russische Bildungsministerium ordnete an, dass das Buch „Archipel Gulag“ von Aleksandr Solschenyzin über den stalinistischen Gefängnis-Terror in den Schulen von nun an zum Pflichtprogramm gehört. Ulrich Heyden
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