Das vergessene KZ
Schwarz sind die Gemälde von Dusan Janackov. In seinem Atelier türmen sich die übermannsgroßen Reliefe bis unter die Decke. Ganz in schwarz gekleidet ist auch Dušan selbst, ein großer Mann, sein langes Haar hat er nach hinten gebunden. Seit 25 Jahren lebt und arbeitet Dusan auf dem Gelände von Staro Sajmiste. Früher war es hier ruhiger, meint er. Es war wie eine Oase. Mitten in Belgrad.
Mitten in Belgrad: Die ehemaligen Baracken des Konzentrationslagers verfallen / Ana Adamovic, n-ost
Die Erinnerung von Debora Ostojic an Staro Sajmiste setzt am 9. Dezember 1941 ein. Als erstes sind ihr die vielen Kinder aufgefallen. Und es war kalt: Der Winter 1941/42 war eine der strengsten seit Jahrzehnten. Ein eiskalter Nordwind drang durch das kaputte Dach und die hohen Fenster ihres Blocks. Am schlimmsten war es nachts, wenn sie auf ihrer engen Holzpritsche lag und die Kinder vor Hunger schrien. „Aber ich hatte eigentlich keine Angst, dass wir liquidiert werden”, erzählt die heute 92-jährige Debora Ostojic.
„Wir wurden nie gefragt“
Die Morde begannen in der ersten Märzhälfte 1942. Aus Berlin war ein als Polizeifahrzeug getarnter Vergasungswagen eingetroffen. Täglich, außer Sonntags und an Feiertagen, hielt er von nun an vor dem Lagertor. Viele meldeten sich freiwillig für den Transport, denn es hieß, die Häftlinge sollten an einen andern Ort verlegt werden. Doch nach der Abfahrt hielt der Wagen am gegenüberliegenden Ufer der Sava kurz an. Einer der beiden Fahrer richtete den Auspuff in den luftdicht verschlossenen Laderaum, dann fuhr der Wagen mitten durch das Zentrum von Belgrad zu einem Schießplatz zehn Kilometer außerhalb der Stadt, wo die Leichen verbrannt wurden. Innerhalb von zwei Monaten wurden auf diese Weise etwa 7.000 jüdische Frauen und Kinder ermordet.
Debora Ostojic hat überlebt, weil sie mit einem Nicht-Juden verheiratet war. Zusammen mit 50 anderen Frauen wurde sie entlassen, kurz bevor Staro Sajmište im Mai 1942 zum Durchgangslager für Serben umgewandelt wurde, die als Zwangsarbeiter nach Westeuropa deportiert werden sollten. Erst spät, sehr spät, hat Debora Ostojic angefangen von ihren Erlebnissen zu erzählen: „Wir wurden nie gefragt“.
Eine Geschichte des Vergessens
Bis heute bleibt unverständlich, warum Geschichten wie diese in der jugoslawischen Erinnerung an die Zeit des Zweiten Weltkriegs praktisch keine Rolle gespielt haben. Schließlich war nach Auffassung von Historikern das zum Konzentrationslager umgebaute Gelände der Alten Messe (Staro Sajmiste) das wichtigste unter deutscher Verwaltung stehende Lager auf dem ganzen Balkan. Hier kam zum ersten Mal überhaupt der Gaswagen systematisch zum Einsatz, der im Ostfeldzug der Wehrmacht noch eine größere Rolle spielen sollte. Und es war eines der ersten Konzentrationslager in ganz Europa, das zunächst speziell für die Internierung von Juden eingerichtet wurde. Doch die Nachkriegsgeschichte von Staro Sajmiste muss als eine Geschichte des Vergessens erzählt werden. Bis heute.
Drei Jahre nach dem Krieg zogen erst die Arbeitsbrigaden in die leer stehenden Gebäude ein, um den neuen Stadtteil Neu-Belgrad aufzubauen. Dann, ab 1952, kamen die Künstler, die hier von der serbischen Akademie der Künste Atelierflächen zugewiesen bekamen, darunter berühmte Namen wie Mića Popović, Olga Jevric, Pavle Ugrinov und Lazar Vozarevic. Es war eine Generation, die noch vom Krieg geprägt war und das auch künstlerisch zum Ausdruck brachten: Olga Jevric nannte alle ihre Arbeiten „tragische Skulpturen“, Lazar Vozarević unterschrieb seine Bilder mit „Staro Sajmiste – das Lager”. Die serbische bildende Nachkriegskunst, so sagen heute viele, ist hier entstanden. Auf dem Boden eines Konzentrationslagers.
„Tragische Skulpturen“: Nach dem Krieg wurden in den ehemaligen Baracken Ateliers für Küsntler eingerichtet / Ana Adamovic, n-ost
Nach den Künstlern kamen die Obdachlosen, die in die Gebäude einbrachen. Die wenigen Künstler, die heute noch auf dem etwa fünf Fußballfelder großen Gelände wohnen, haben keine Mittel, um die dringend nötigen Renovierungen durchzuführen. Wenn Dušan Janackov heute vor die Tür seines Ateliers tritt, sieht er seit Jahren dasselbe Bild: Langgezogene Blocks, von denen der Putz herunterfällt. Nur im Sommer mag das einen gewissen Charme haben, wenn die Wiesen und Bäume zwischen den Gebäuden grün sind und sich das Leben der Bewohner im Freien abspielt. Im Winter dagegen herrscht Trostlosigkeit. Im Jahr 2002 wurden 2250 Menschen gezählt, die auf dem Gelände wohnten, das heute mitten im Zentrum von Belgrad liegt und damit auch neue Begehrlichkeiten weckt.
Das ehemalige Lagerspital wird wieder genutzt - als Disko
Alexander Mosic hat während des Zweiten Weltkriegs auf der Seite der Partisanen gekämpft, war dann Betriebsleiter einer Erdölraffinerie in Zagreb. 1964 kehrte er nach Belgrad zurück, um die Raffinerie in Pancevo aufzubauen – dann bekam er einen Posten in Indien. Als er in den 80er Jahren zum ersten Mal das Gelände von Staro Sajmiste betrat, traute er seinen Augen nicht: Nicht nur, dass die Gebäude auf dem Gelände in einem jämmerlichen Zustand waren und an das vergangene Leid lediglich ein unscheinbarer Gedenkstein erinnerte. Einige der im städtischen Besitz befindlichen Häuser waren sogar schon in privatem Besitz übergangen, ganz offiziell, mit Eintrag beim Katasteramt. „Korruption“, schnaubt Mosic verächtlich. Seitdem führt er einen weiteren Kampf. Mit anderen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde gründete er einen Verein, der sich nunmehr seit 25 Jahren dafür einsetzt, dass das Gelände von Staro Sajmiste endlich zu einer Gedenkstätte ausgebaut wird.
Alexander Mosic war jetzt schon seit einem Jahr nicht mehr vor Ort. Das neue Restaurant hat er deshalb noch nicht gesehen, auch der Parkplatz neben der Sportanlage ist neu. „Also es ändert sich etwas. Aber nicht in einem Sinne, der angebracht wäre”, seufzt er. Dann zeigt er in Richtung des früheren Lagerspitals, dessen Patienten die ersten Kandidaten für den Gaswagen waren. Es ist nun in privatem Besitz und wird als Diskothek genutzt.
Alexander Mosic kämpft schon seit 25 Jahren für die Einrichtung einer Gedenkstätte auf dem ehemaligen KZ-Gelände / Ana Adamovic, n-ost
Als jedoch vor zwei Jahren die britische Rockband Kosheen ein Konzert auf dem Gelände von Staro Sajmiste veranstalten wollten, war für viele Belgrader Intellektuelle eine Grenze überschritten. Es hagelte Proteste, auch das Simon-Wiesenthal-Zentrum intervenierte, ein solches Konzert, so der Leiter der Jerusalemer Niederlassung, sei eine Beleidigung der Opfer. Das Konzert wurde schließlich abgesagt.
Erinnerung an den Holocaust wurde verdrängt
„Wenn Bürger sich pietätlos an solchen Orten verhalten, kann ihnen das eigentlich kaum zum Vorwurf gemacht werden“, meint Branka Prpa, Direktorin des Stadtarchivs. Die Verantwortung sieht sie beim Staat, der es seit über 60 Jahren versäumt habe, die Geschichte des Lagers in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Erst stand der Aufbau von Neu-Belgrad im Vordergrund, ein gigantischer neuer Stadtteil für 300.000 Einwohner, der heute das Gelände von Staro Sajmište umschließt. Dann eine jugoslawische Erinnerungspolitik, die vor allem den heldenhaften Kampf der Partisanen gegen die nationalsozialistischen Besatzer in den Mittelpunkt stellte. „Die Kommunisten haben den Partisanenkampf vor allem als eine auf die Zukunft gerichtete Revolution dargestellt, hin zu einer sozialistischen Gesellschaft glücklicher Menschen.“ Die Erinnerung an den Holocaust ist dadurch verdrängt worden, kritisiert Prpa.
Zwar hat die Stadt Belgrad das Gelände 1987 zum Kulturerbe erklärt und fünf Jahre später einen Entwicklungsplan vorgelegt, der die Rekonstruktion von Staro Sajmiste zur Gedenkstätte vorsieht. Doch außer der Errichtung eines zweiten Denkmals am Ufer der Sava, außerhalb des eigentlichen Geländes, ist nichts mehr passiert. „Man ist höflich”, beschreibt Alexander Mosic die Einstellung der Verantwortlichen. „Man sagt, ja wir haben das im Programm. Aber wenn es konkret wird, heißt es: Wir haben kein Geld.” Und so gibt es in Belgrad bis heute keinen gebührenden Platz, wo die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts dargestellt wird.
Pläne für Museumsbau
Doch neuerdings kommt wieder Bewegung in die Sache: 2007 hat sich eine neue Initiative gegründet, angeführt vom Belgrader Nachrichtensender B92, die sich für die Erhaltung und Rekonstruktion des ehemaligen Konzentrationslagers einsetzt. Anfang des Jahres hat der Sender eine zweiteilige TV-Dokumentation ausgestrahlt, durch die die Geschichte des Lagers erstmals in die breite Öffentlichkeit gebracht worden sind. Die Initiative ist bei B92 Chefsache: Veran Matic steht in seinem Büro und erläutert, über den Lageplan von Staro Sajmiste gebeugt, seine Pläne für ein „Museum der Toleranz“: „Die Gebäude müssen zunächst vollständig erneuert werden, danach können sie als Museum und Bildungszentren dienen.“ Nach Matićs Vorstellung soll Staro Sajmište die zentrale Gedenkstätte in Serbien werden, in der neben einem Holocaust Museum auch ein Museum gebaut wird, das an die Balkankriege in den 90er Jahren erinnert.
Die Zeit drängt
Verand Matic weiß, dass die Zeit drängt, weil die großen Baufirmen nichts lieber täten, als das attraktive Gelände am Ufer der Sava in einen Business Park zu verwandeln. Als er die Nachricht erhielt, dass ein Restaurant in einem der Gebäude des ehemaligen Konzentrationslagers aufgemacht hat, sprach er persönlich beim Bürgermeister vor. Der hat den Vertrag dann zwar umgehend kündigen lassen, aber das Restaurant ist immer noch da, und Matic fürchtet, dass sich daran auch nicht so schnell etwas ändern wird. Trotzdem ist Matic optimistisch, was die Erfolgsaussichten betrifft – wenn es gelingt, „weiterhin die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Staro Sajmiste zu lenken“. Deshalb ist jetzt auch noch ein dritter Teil der Dokumentarfilmreihe in Vorbereitung, der speziell die Nachkriegsgeschichte und die Frage des Gedenkens in den Mittelpunkt stellt. Nur manchmal, wenn er enttäuscht ist, weil es wieder einen Rückschlag gegeben hat, sagt Matic, „dann denke ich, wir sollten vielleicht doch eine Shopping Mall bauen und die Nachkommen der Ermordeten zwischen den Boutiquen ausstellen”.
Öffentlicher Druck dank Sender B92
Alexander Mosic ist in diesem Jahr 90 geworden. Vor kurzem hat er noch einmal geheiratet und sucht mit seiner Frau nun eine neue Wohnung. Mosic ist froh, dass das Lager nun aber immerhin wieder in der Diskussion ist, ein einflussreicher Fernsehsender wie B92 hat natürlich ganz andere Möglichkeiten, den nötigen Druck über die Öffentlichkeit herzustellen. Nur den von Veran Matic gewählten Namen „Museum der Toleranz“ findet er etwas unglücklich: „Was heißt Toleranz? Was tolerieren wir?“
Debora Ostojic ist mittlerweile die letzte noch lebende Jüdin in Belgrad, die in Staro Sajmiste inhaftiert war. Ein Museum sollte unbedingt gebaut werden, egal wie es heißt, sagt sie. Auch wenn sie nicht damit rechnet, die Eröffnung noch zu erleben. Aber daneben müsse es noch etwas geben – etwas Größeres, Phantasievolles. „Denn ein Museum sagt dem Laien nicht viel. Normale Menschen brauchen etwas Bildhafteres, Leichteres.“ Das denkt auch Dusan, der es schadet findet, dass sich die Künstler nicht viel mehr des Lagers angenommen haben. „Früher gab es immer eine gemeinsame Ausstellung am 9. Mai“, dem Gedenktag zum Sieg über den Faschismus. Aber irgendwann sei das eingeschlafen.
Dabei war das Atelier von Dusan Janackov schon einmal die Kulisse für ein legendäres Ereignis im serbischen Kulturleben nach dem Krieg. 1954 wurde aufgrund von politischem Druck die Premiere eines Stücks am Belgrader Theater abgesagt, woraufhin an einem verabredeten Abend die ganze Truppe in Dusans Atelier zusammenkam, das damals noch im Besitz von Mica Popovic war. 40 weitere Gäste fanden sich ein, darunter fast alle Belgrader Theaterkritiker und weitere Intellektuelle, die mutig genug waren, einem „illegalen privaten Treffen“ beizuwohnen. In der zweiten Hälfte der Aufführung setzte ein heftiger Sturm ein. Der Strom fiel aus, Kerzen mussten angezündet werden. Das Stück hieß „Warten auf Godot“.