Immer neue Rätsel um Arctic Sea
Nach Telefon-Drohungen setzt sich der russische „Artic-Sea“-Experte, Michail Wojtenko, nach Istanbul ab. Einen Tag später wird er von seinem russischen Arbeitgeber gekündigt.
(n-ost) – Obwohl das gekaperte und später vermisste Frachtschiff Arctic Sea schon vor zwei Wochen von einem Kriegsschiff der russischen Marine im Atlantik vor den Kapverden aufgebracht wurde, gibt es noch immer keine schlüssige Erklärung dafür, was die angeblichen Piraten eigentlich auf dem Schiff wollten. Stattdessen kommen täglich neue Hinweise, welche die offizielle russische Version, das Schiff habe nur Holz an Bord gehabt, in Frage stellen.Russische Experten hatten vermutet, dass die unter maltesischer Flagge laufende Arctic Sea, die einem finnischen Unternehmen gehört, auch Waffen für den Iran oder Syrien – möglicherweise Raketen – an Bord hatte. Das Schiff war am 23. Juli mit 15 russischen Seeleuten aus einem finnischen Hafen mit Holz für Algerien gestartet und einen Tag später von acht Piraten gekapert worden, die sich heute als in Seenot geratene Umweltschützer ausgeben.Offenbar gibt es von russischer Seite keinerlei Bereitschaft, Licht in das Dunkel zu bringen. Acht Seeleute der Arctic Sea wurden in Moskau konsequent von der Öffentlichkeit abgeschirmt und nach ihrer Freilassung offenbar mit Sprechverbot belegt. Russlands Nato-Botschafter Dmitri Rogosin erklärte, bei der Durchsuchung des Frachters durch russische Sicherheitskräfte sei „nichts Auffälliges“ gefunden worden.Am Mittwoch hat sich nun der bekannte russische Piraterie-Experte, Michail Wojtenko, der erklärt hatte, an Bord des Schiffes hätten sich möglicherweise Waffen befunden, fluchtartig nach Istanbul abgesetzt. Wojtenko, der selbst 15 Jahre zur See fuhr, arbeitete danach als Chefredakteur der Internetzeitung „Maritime Bulletin Sowfracht“. Gestern veröffentlichte sein Arbeitgeber, das Transport-Unternehmen Sowfracht, eine Erklärung, nach der Wojtenko von seinem Job als Chefredakteur der Internetzeitung „zurückgetreten“ sei.Unmittelbar nach seiner Flucht hatte Wojtenko jedoch gegenüber der Moscow Times noch angegeben, er sei von Unbekannten am Telefon bedroht worden. Der Anrufer habe erklärt, er brauche sich wohl „nicht vorzustellen“. Man habe ihm in grobem Ton erklärt, er solle „Moskau für drei bis vier Monate verlassen“. Wojtenko erklärte gegenüber dem Blatt, die Drohungen gegen ihn hingen mit dem Fall Arctic Sea zusammen. Auf der von Sowfracht finanzierten Internet-Seite „Maritime Bulletin“ hatte er ausführlich über den Fall Arctic Sea berichtet und nicht ausgeschlossen, dass sich an Bord des Frachters Schmuggel-Waffen befanden.Der Moskauer Sicherheitsexperte Andrej Soldatow erklärte gegenüber der Moscow Times, die Drohungen gegen Wojtenko seien „nicht typisch“ für den russischen Geheimdienst. Der Geheimdienst, meint er, hätte mit Wojtenko ein persönliches Gespräch geführt oder einfach die Website „Maritime Bulletin“ abgeschaltet. Vermutlich sei Wojtenko von Waffenhändlern bedroht worden. Am Donnerstag hatte sich der geflüchtete Piraterie-Experte mit einer kurzen Mitteilung auf der Website „Maritime Bulletin“ zu Wort gemeldet und erklärt, er befinde sich auf einer Dienstreise in Istanbul, wo er „eine Reihe von interessanten Reportagen“ vorbereite.Zu denjenigen, welche die offizielle russische Version anzweifelten, auf dem Frachter habe sich nur Holz befunden, gehört auch die Kreml-kritische Journalistin Julia Latynina, welche in einem Beitrag für die Internetzeitung „Eschednewnyj Journal“ vermutet, dass sich an Bord des Schiffes Raketen oder Atom-Technologie für ein Land im Nahen Osten befanden. Diese „heiße Ware“ sei bereits bei einem längeren Reparatur-Aufenthalt der Arctic Sea auf einer Werft in Kaliningrad geladen worden. Die Piraten, die das Schiff dann enterten, hätten im Auftrag eines westlichen Staates gehandelt, welches sich durch die Ware bedroht fühle und Russland ein Lektion erteilen wolle, ohne den Kreml direkt zu beschuldigen. Verschiedene westliche Medien brachten schließlich den israelischen Geheimdienst Mossad als Akteur der Kaperung ins Spiel. Als Indiz für diese These wird der überraschende Besuch des israelischen Premiers Shimon Peres genannt, der sich nur einen Tag nach der Aufbringung der Arctic Sea mit Kreml-Chef Dmitri Medwedew in Sotschi traf.Die Enthüllungs-Journalistin Julia Latynina hält es zudem für möglich, dass die „heiße Ware“ bereits in der Zeit zwischen dem 30. Juli und 17. August, also in der Zeit als das die Arctic Sea keinen Funkkontakt hatte, von einer Sondereinheit eines ausländisches Staates auf See entladen wurde. Echte Piraten, vermutet sie, hätten Lösegeld gefordert und seien demnach an einem gut funktionierenden Funk-Kontakt interessiert gewesen. Die Journalistin hält es zudem für möglich, dass die acht Piraten, die nach der Aufbringung der Arctic Sea unter den Augen der russischen Fernsehkameras verhaftet wurden, extra auf den Frachter gebracht wurden, um die offizielle Version eines von Piraten gekaperten Schiffes abzurunden.Der Bruder eines der angeblichen Piraten hatte hingegen im estnischen Fernsehen erklärt, die verhafteten „Piraten“ seien „Geiseln eines politischen Spiels“. Die acht Verhafteten, die ihre Schuld bestreiten – unter ihnen sind Bürger Russlands, Estlands und Lettlands - sitzen jetzt im Moskauer Lefortowo-Gefängnis. Acht der 15 Arctic-Sea-Besatzungsmitglieder durften – nachdem man sie tagelang in einem Moskauer Hotel verhört und von der Außenwelt abgeschirmt hatte – am Sonntag in ihre Heimatstadt, das nordrussische Archangelsk, zurückfliegen.Nach einer Meldung der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti befand sich die Arctic Sea gestern immer noch im Atlantik. Der Frachter habe mit vier Besatzungsmitgliedern an Bord in Begleitung des russischen Kriegsschiffes Ladnij Kurs auf die Meerenge von Gibraltar genommen. Nach russischen Angaben soll die Arctic Sea, ohne einen ausländischen Hafen anzulaufen, direkt zum russischen Schwarz-Meer-Hafen Noworossijsk fahren. Anfang der Woche hatte der Kapitän - das erste Mal nach der Aufbringung des Schiffes - mit seinen Angehörigen telefoniert und mitgeteilt, alle vier Besatzungsmitglieder seien gesund und unverletzt, das Schiff aber sei beschädigt.ENDE
Nachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 – 0