Ohne Schuldeingeständnisse – Putin in Danzig
Russlands Premierminister Wladimir Putin reist am 1. September nach Danzig – mit einer Geschichtspolitik im Koffer, die die dunklen Kapitel der Sowjetgeschichte ausblendet(n-ost) – April 1990: Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow wagt einen mutigen Blick in die Geschichte. Er erklärt, die Sowjetunion trage die Alleinschuld dafür, dass im Frühjahr 1940 in einem Birkenwald bei Katyn 20.000 polnische Offiziere erschossen wurden. Die Täter waren Soldaten des sowjetischen Innenministeriums. Ziel der Bluttat sei die Enthauptung des polnischen Staates gewesen. 2005: Der oberste russische Militärstaatsanwalt stellt die Ermittlungen im Fall Katyn ein. Ein Massenmord an Bürgern Polens konnte nicht festgestellt werden, erklärt Militärstaatsanwalt Aleksandr Sawenkow.Auch heute, kurz vor dem 70. Jahrestag des Kriegsbeginns, weist Russland alle Forderungen von Seiten der neuen Nato-Mitglieder in Osteuropa nach Schuldeingeständnissen schroff zurück. Deshalb wird der Besuch von Ministerpräsident Wladimir Putin am 1. September in Danzig mit Spannung erwartet. Wird er bei dem Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren zu Katyn und dem deutsch-russischen Nichtangriffspakt schweigen? Und wird er – wie schon in der Vergangenheit – den Blutzoll hervorheben, den sowjetische Soldaten bei der Befreiung Polens von Hitlerdeutschland leisteten?Die politische Führung in Russland sieht keinen Grund, sich zu entschuldigen, weder für die Erschießung der polnischen Offiziere, noch für die Besetzung der östlichen Gebiete Polens und der baltischen Republiken, die der Unterzeichnung des deutsch-russischen Nichtangriffspaktes im August 1939 folgte. Denn, so die Argumentation des Kremls, der Sieg der sowjetischen Truppen über die Hitler-Wehrmacht 1945 wurde mit viel Blut bezahlt. Niemand solle diesen Sieg schmälern – schon gar nicht Staaten, die erst vor kurzem Mitglieder der Nato geworden seien und gegenüber Russland einen scharfen Ton führten.Alle Versuche, die Rolle der Sowjetunion beim Sieg über Hitler-Deutschland zu schmälern, wehrt der Kreml ab. Auf Initiative von Kreml-Chef Dmitri Medwedew soll ein Gesetz erlassen werden, durch das jenen, die die sowjetische und russische Geschichte „verfälschten“, Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren drohen. Das Gesetz richtet sich vor allem gegen die Gleichsetzung von Hitler und Stalin und die Bemühungen ehemaliger Angehöriger von SS-Divisionen in den baltischen Staaten und der Ukraine um Rehabilitierung.Den deutsch-russischen Nichtangriffspakt und das Geheime Zusatzprotokoll verteidigt Moskau als militärtaktisch notwendige Maßnahme. Der Kreml-Berater Wjatscheslaw Nikonow – sein Großvater war der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow – meinte kürzlich, es sei 1939 absehbar gewesen, dass Deutschland gegen Polen Krieg führen werde. Für die sowjetische Führung sei in dieser Situation die Hauptfrage gewesen, „wo die deutschen Truppen stehen bleiben – in Warschau oder ob sie weiter nach Minsk oder Moskau vorrücken werden.“ Mit dem Nichtangriffspakt habe Stalin versucht, die deutschen Truppen möglichst weit vom sowjetischen Territorium fern zu halten.Zu dieser traditionellen Position mischt sich in Moskau heute in die Debatte ein neues Argument zur Rechtfertigung. Die nach der Unterzeichnung des deutsch-russischen Nichtangriffspaktes von sowjetischen Truppen besetzten Gebiete in Polen und im Baltikum hätten noch „zwanzig Jahre vorher zum Territorium des russischen Imperium gehört“, so die Historikerin Natalja Narotschnizkaja, die der präsidialen Kommission gegen die Verfälschung der Weltkriegs-Geschichte angehört.In der Hochzeit der Perestroika, im Dezember 1989, versuchte sich der sowjetische Kongress der Volksdeputierten im Handstreich von der historischen Verantwortung für die Besetzung osteuropäischer Länder zu befreien und verabschiedete eine Erklärung, in der das Zusatzprotokoll als eine von Stalin unter Ausschluss der Partei eingefädelte „Verschwörung“ bezeichnet wird. „Sie spiegelt in keiner Weise den Willen des sowjetischen Volkes wieder, welches für die Verschwörung keine Verantwortung trägt“, hieß es.Stalin wird in der öffentlichen Debatte heute immer häufiger als „effektiver Manager“ bezeichnet. Mit dem Namen Stalin verbinden die Russen „vor allem die Epoche des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg“, meint Arsenij Roginskij, Vorsitzender der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die sich nun schon seit 20 Jahren mit der Aufarbeitung der Stalin-Verbrechen beschäftigt. Die Mehrheit der Bevölkerung sei heute nicht mit ihrer Lebenslage zufrieden, daher besinne man sich gerne auf die „Epoche des Sieges“. In Russland wunderte sich daher niemand, als im Dezember 2008 bei einer Internet-Abstimmung des staatlichen Fernsehkanals „Rossija“ über die „Helden Russlands“ Stalin auf Platz Drei landete.Diese Bewertung der Vergangenheit geht vielfach mit Unwissen einher. Nach einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentr hat die Mehrheit der Russen (52 Prozent) noch nie etwas vom Geheimen Zusatzprotokoll gehört. 61 Prozent der Befragten wissen nicht, dass die Rote Armee auf Grundlage des Geheimen Zusatzprotokolls den Ost-Teil Polens besetzte.In Polen haben über 3,7 Menschen den Film „Katyn“ des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda, der die Geschehnisse von 1940 im weißrussischen Katyn schildert, gesehen. In Russland wurde er bisher nur in geschlossenen Veranstaltungen gezeigt. Er ging nicht in den Film-Verleih, weil er in Russland kommerziell nicht verwertbar sei, schreiben Moskauer Zeitungen.Ulrich Heyden
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