Engagement ohne staatlichen Zwang
Es gibt nur wenige Polen, die diese Organisation nicht kennen: Das „Große Orchester der Feiertags-Hilfe“ (WOSP) sammelt Jahr für Jahr Spenden für medizinische Geräte an Kinderstationen in Kliniken. Die Spendensammlung gipfelt im „Großen Finale“, das immer am ersten oder zweiten Januarsonntag stattfindet und von den großen TV-Stationen des Landes übertragen wird. Über 40 Millionen Zloty (knapp 10 Millionen Euro) kamen dieses Jahr zusammen, 120.000 ehrenamtliche Helfer trugen zu dem Erfolg bei.
Doch so gut wie dieser Organisation geht es in Polen nur wenigen. Denn die Polen engagieren sich im EU-weiten Vergleich am wenigsten. Und das, obwohl es keine rechtlichen und faktischen Beschränkungen für zivilgesellschaftliches, vom Staat unabhängiges Engagement gibt. Das ist umso überraschender, weil es beispielsweise in Russland gerade staatliche Beschränkungen sind, die zivilgesellschaftliches Engagement hemmen. Dabei herrschten in beiden Ländern vor dem Zusammenbruch der kommunistischen Regimes faktisch die gleichen Voraussetzungen.
70 Jahre lang wurde etwa in der Sowjetuion jede Art zivilgesellschaftlichen Engagements unterdrückt: Die Kommunistische Partei behauptete zu wissen, was die Gesellschaft braucht. Autonome Organisationen, die andere Wege vorschlugen, wurden in den Untergrund gedrängt. „Menschen wurden damals zu ehrenamtlichen Aktivitäten verpflichtet, deren Sinn sie nicht einsahen“, sagt der Soziologe Dariusz Wojakowski von der Universität in Rzeszow in Polen. Er glaubt, dass das heute geringe zivilgesellschaftliche Engagement eine Erblast des Realsozialismus sei.
Während und nach der Wende blühte kurzzeitig das gesellschaftliche Engagement auf. So brachen durch die Perestroika die starren Strukturen in Russland auf: Binnen weniger Jahre gründeten sich Hunderttausende Initiativen, Vereine und Organisationen. Etwa 70 Prozent der heute existierenden NGOs wurden in den 90er Jahren gegründet. In Polen war bereits mit der Gründung der Solidarnosc-Bewegung 1980 ein Höhepunkt gesellschaftlichen Engagements erreicht. Doch sehr bald sank die Motivation der Menschen in Polen und Russland – und zwar aus sehr unterschiedlichen Gründen.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschlimmerte sich die soziale Lage der Bevölkerung immer mehr. Viele Russen waren in der Folge vor allem damit beschäftigt, sich und ihre Familien zu ernähren. Die meisten Organisationen stellten ihre Tätigkeit ein. Dass heute von den auf dem Papier existierenden 300.000 Organisationen nur ein Bruchteil aktiv ist, liegt aber auch an neuen staatlichen Strukturen und Gesetzen.Seit 2003 beschäftigte sich die Kreml-Administration unter der Führung des damaligen Präsidenten Wladimir Putin verstärkt mit der Zivilgesellschaft – allerdings mit eigenen Zielen.
Mit einer Reihe von Gesetzen wurden besonders internationale Organisationen und aus dem Ausland finanzierte russische NGOs geschwächt. Seit 2005 müssen sich NGOs in einem Register anmelden. Die zuständige Behörde darf die Zulassung ablehnen oder eine NGO auflösen, wenn diese den Zulassungskriterien nicht entspricht oder es versäumt, geforderte Dokumente rechtzeitig vorzulegen. Hinzu kommen Kontrollen der Finanz- und Steuerbehörden. Ehrenamtliches Engagement wurde seither also vielfach schlicht unmöglich.
Gleichzeitig entstanden in der Regierungszeit Putins eine Reihe von Organisationen, die zivilgesellschaftliches Engagement nur imitieren: Mit finanzieller Unterstützung des Kremls wurden verschiedene Jugendorganisationen wie die „Naschi“ gegründet, in vielen Städten entstanden auf Anordnung von oben „Gesellschaftskammern“, die jedoch nur selten wirklich die „Gesellschaft“ vertreten. Und auch die Kreml-Partei „Einiges Russland“ (Zwei Millionen Mitglieder) ist eine vom Staat organisierte und finanzierte Einrichtung.
In Polen, wo es derartige Einschränkungen und Gesetze nicht gibt, liegt der Grund für fehlendes Engagement neben der noch heute andauernden Erinnerung an sozialistische Gesellschaftsnormen vor allem im fehlenden Vertrauen in die Mitbürger: Laut einer Studie der polnischen Organisation Klon/Jawor ist es das niedrigste in der gesamten EU überhaupt. Es resultiert mitunter aus der stark ausgeprägten Korruption – Transparency International platzierte Polen 2007 im EU-Vergleich direkt vor Rumänien und Bulgarien. Es herrscht aber auch generell eine geringe Identifikation der Polen mit ihrem Staat – verstanden als Institution.
Ein weiterer Grund für fehlendes Engagement und eine schwache Zivilgesellschaft in Polen liegt auch darin, dass das Land – ähnlich wie etwa Italien und Spanien – zu den so genannten „low trust familistic societies“ gehört. Nach Einschätzung des US-amerikanischen Philosophen und Politologen Francis Fukuyama sind das Gesellschaften, in denen starke familiäre Bindungen mit einem relativ hohen Misstrauen gegenüber dem Staat, seinen Institutionen und auch der Zivilgesellschaft einhergehen.
Bei allem Pessimismus gegenüber gesellschaftlichem Engagement gibt es in beiden Ländern Lichtblicke. So machen die jüngsten Signale des seit März 2008 in Russland amtierenden Präsidenten Dmitri Medwedjew Hoffnung: In einem Exklusiv-Interview mit der regierungskritischen „Nowaja Gaseta“ im April 2009 sagte er, die Zivilgesellschaft sei „eine unveräußerliche Institution eines jeden Staates“. Seinen Worten ließ er Taten folgen: Ende Juli 2009 wurde das in der Putin-Ära verabschiedete NGO-Gesetz entschärft. Besonders kleine NGOs, die etwa 90 Prozent der russischen Nichtregierungsorganisationen ausmachen, müssen nun weitaus weniger Verwaltungsaufwand bewältigen. Zudem können NGOs nicht mehr so schnell geschlossen werden wie zuvor.
Die Quelle, aus der sich die langsam wachsende russische Zivilgesellschaft speist, ist die russische Mittelschicht. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung macht etwa 10 bis 20 Prozent aus. „Das sind diejenigen, die etwas zu verlieren haben, und deshalb dafür kämpfen“, sagt Jewgeni Gontmacher, Leiter des Zentrums für Sozialpolitik des Wirtschaftsinstituts der Russischen Wissenschaftsakademie. Überall im Land formieren sich in den letzten Jahren Initiativgruppen, die für ihre jeweiligen Interessen kämpfen: Betrogene Wohnungskäufer, Autofahrer, Umweltschützer oder Gegner illegaler Bauvorhaben.
„Mit der Politik haben solche Aktivitäten jedoch nichts zu tun“, hat Gontmacher erkannt. Die Mitglieder dieser Initiativen kämpfen für ihre jeweiligen Anliegen, mit Parteien wollen sie nichts zu tun haben. Gontmacher spricht von einem „echten und breiter werdenden Wunsch, für die eigenen und die unterdrückten Rechte anderer einzustehen, was für das heutige Russland „frisch ist und, wie ich hoffen will, Perspektive hat.“
In Polen tun sich Menschen vor allem zusammen, um gegen Gewalt und Armut vorzugehen und für Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter und Menschenrechte zu wirken. Der Ehrenamtler Tadeusz Barcik, der in der südpolnischen 200.000-Einwohner-Stadt Gliwice in einem Ortsbeirat aktiv ist, glaubt, dass diese Themen vor allem Jugendlichen nahe gebracht werden müssen, „damit Engagement für sie selbstverständlich wird“.
Jurek Owsiak, Gründer des Großen Orchesters, hat das bereits erfolgreich ausprobiert: Als Dankeschön für die Zehntausenden, meist jungen Helfer für sein stetig wachsendes Hilfsprojekt hat er das Festival „Haltestelle Woodstock“ ins Leben gerufen. Seit den neunziger Jahren wird das Open-Air-Konzert jährlich über mehrere Tage veranstaltet und zieht mittlerweile auch Bands und Gäste aus dem Ausland an. Die freiwilligen Orchester-Helfer tanken dort Energie für das nächste „Große Finale“ – denn sie wollen wieder einen Spendenrekord erreichen.