Streit um Vermisste
Εin Vormittag in der Behörde für vermisste Personen in der geteilten Hauptstadt Zyperns. Zwei kleine Holztruhen stehen nebeneinander auf einen Tisch in einem dunklen Raum, neben einer Ikone der Jungfrau Maria. Darin befinden sich die Knochen eines griechisch-zypriotischen Paares, die im besetzten Teil Zyperns gefunden worden sind. Sie sind mit einem weißen Tuch eingewickelt. In ein paar Stunden wird die Familie kommen, um die Knochen abzuholen und sie zu beerdigen.
Die beiden Truhen bergen alles, was von den Hoffnungen der Angehörigen geblieben ist. Mehr hat die Aufklärung der Umstände, unter denen das Paar ums Leben gekommen sind, nicht ergeben. Zusammen mit den Knochenfunden erhalten die Hinterbliebenen eine Zeichnung des Skeletts, eine Fotoaufnahme der Stelle, wo die Exhumierung stattgefunden hat, eine von einem Gerichtsmediziner ausgestellte Sterbeurkunde, sowie persönliche Gegenstände, die vor Ort gefunden wurden. Damit gilt so ein Fall als abgeschlossen, ohne dass die Angehörigen oder die Öffentlichkeit mehr über die Todesumstände erfahren.
Mehr als 1.600 Zyperngriechen und 500 Zyperntürken gelten 35 Jahre nach der türkischen Invasion in Zypern immer noch als vermisst. Der türkischen Invasion ging ein von der griechischen Militärjunta unterstützter Putsch gegen den zyprischen Präsidenten Makarios voraus. Die griechisch-nationalistischen Extremisten strebten die Angliederung Zyperns an Griechenland an. Die Türkei besetzte den Norden unter Berufung auf ihre Rolle als Schutzmacht der türkischen Inselbewohner.
Periklis Stivaros, 44, schaut gerührt auf die beiden Holztruhen. Sein Bruder Andreas, ein 20-jähriger Soldat während der Invasion, galt bis vor drei Jahren als vermisst. Seine Überreste wurden in den besetzten Gebieten gefunden, mit Schüssen in Kopf und Körper, in einem provisorischen Grab. „Wir hatten Glück“, sagt er. „Wir können eine angemessene Beerdigung durchführen. So kann man dem Schmerz eine Perspektive geben. Man will aber die ganze Wahrheit erfahren. Auch wenn es schmerzhafte Dinge sind.”
So wie Periklis Stivaros und seine Familie leben die Angehörigen der Vermissten jahrelang still das Drama der Trauer und der Ungewissheit. Doch nun gab es eine Zäsur: Vor kurzem haben makabre Knochenfunde von fünf griechisch-zypriotischen Soldaten und zwei schwerbehinderten Kindern die bittere Erinnerung an das ungewisse Schicksal der Vermissten in der zypriotischen Öffentlichkeit wachgerufen.Es handelt sich um jene fünf Soldaten, die im Jahr 1974 während ihrer Festnahme von einem türkischen Journalisten fotografiert wurden. Mit ängstlichen Blicken und im Nacken verschränkten Händen knieten sie vor den türkischen Soldaten nieder. Das Foto wurde veröffentlicht und gilt seit Jahren als Symbol der Trauer, aber auch der Hoffnung. Der Hoffnung darauf, dass die Vermissten irgendwo noch am Leben sind.
Nun haben die Untersuchungen der Knochenfunde ergeben, dass die fünf durch das Foto berühmten Soldaten erschossen wurden. Die Gebeine wurden in einem Brunnen in der Nahe der Ortschaft Tziaos (Distrikt Famagusta) gefunden. Die Identifizierung der Überreste von zwei schwerbehinderten Kindern einer griechisch-zypriotischen Familie, die kaltblütig zusammen mit ihren Eltern während der Invasion niedergeschossen wurden, hat die zypriotische Gesellschaft schockiert.
Nikosia fordern seit Jahren Ankara auf, die Geheimakten der Armee zu öffnen, um die Wahrheit über die Vermissten zu erfahren. Die Türkei indes ignoriert das verbindliche Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2001 sowie die vierte staatliche Berufung der Republik Zypern an dieses Gericht. Darin wird die Aufklärung der Todesumstände der Vermissten verlangt. Ankara verspricht immer wieder nur, dass es die Untersuchungen auch in den Militärzonen im besetzten Teil, wo sich viele Überreste von vermissten Zyperngriechen befinden sollen, genehmigen wird. Doch bis jetzt blieb es bei den Versprechungen.
Nicht einmal das durch die Vereinten Nationen geleitete Komitee für Vermisste Personen (CMP) kann die Fälle der vermissten türkischen wie griechischen Zyprioten aufklären. Denn es ist nur mit der Exhumierung und der Rückgabe der Funde an die Angehörigen beauftragt und nicht mit der Klärung der Todesumstände. „Wenn man die sterblichen Überreste ausgräbt, dann gräbt man auch die Vergangenheit aus. Die Vergangenheit ist also hier, und die beiden Volksgruppen werden entscheiden, was sie damit machen”, erklärt Christophe Girod, Mitglied des Komitees.
Auf der anderen Seite, im türkisch besetzten Nikosia, hat der Schmerz der Angehörigen der Vermissten dieselbe Gestalt. Es handelt sich um die über 500 Opfer der Auseinandersetzungen, die von 1963 bis 1964 stattgefunden haben, als Makarios Verfassungsänderungen durchsetzen wollte. Es folgten Progrome und ethnische Säuberungen. Dörfer mit türkischsprachigen Zyprioten wurden systematisch abgeriegelt. Die Angehörigen fordern genau wie die Zyperngriechen eine Aufklärung.
„Ich warte seit 45 Jahren, um herauszubekommen, was meinem Vater zugestoßen ist. Und ich werde warten, bis ich sterbe“, sagt Hatice, eine 55jährige türkische Zypriotin, mit Tränen in den Augen. Sie glaubt, dass ihr Vater, der im 1963 im Alter von 47 Jahren aus der Nähe von Nikosia verschwand, noch im Leben ist. Laut einer Umfrage glauben acht Prozent der Zyperntürken, dass ihre Familienmitglieder noch am Leben sind. Bei den Angehörigen griechisch-zypriotischer Vermissten sind es dagegen 30 Prozent.Im Jahre 1997 veröffentlichte Petros Kasimatis, ein renommierter griechischer Journalist, ein Buch mit Fakten und Dokumenten über das mögliche Vorhandensein einer kleinen Anzahl von vermissten Zyperngriechen in Gefängnissen der Türkei. „Das Thema wurde von allen politischen Parteien niedergemacht. Weder die konservative Regierung von Mitsotakis und die sozialistische von Papandreou haben etwas unternommen. Egal, ob das Buch Wahrheit oder Lüge war, man sollte eine Untersuchung einleiten“, fordert Doros Pieridis, ein ehemaliger Diplomat aus Zypern.
Das Labor des Komitees für Vermisste Personen (CMP) im alten Flughafen von Nikosia in der UN-Pufferzone. Foto: CMP /ARCHIV
Nach den jüngsten Knochenfunden werden die Stimmen besonders in der griechisch-zypriotischen Presse lauter, dass Zypern seine Position als EU-Mitglied nutzen sollte, um die Türkei dazu zu drängen, die Armeeakten zu öffnen, und das Land wegen Kriegsverbrechen in Den Haag zu verklagen. Doch eine Verschärfung der Forderungen aus Zypern könnte den Annäherungsprozess zwischen beiden Volksgruppen verzögern. Denn nach zahlreichen gescheiterten Versuchen einer Wiedervereinigung Zyperns verhandeln die Führer der beiden Volksgruppen seit einem Jahr über eine Lösung des Zypernproblems und man erwartet, dass im kommenden Herbst eine Annäherung möglich wird.
„Was wird die zypriotische Regierung erreichen, wenn sie die Türkei auf die Anklagebank bringt?“, fragt die englischsprachige Tageszeitung Cyprus Mail. „Die Arbeit des CMP- Komitees wird erschwert, die Verhandlungen um eine Lösung des Zypernproblems werden einen Schlag bekommen und die Feindschaft zwischen den beiden Volksgruppen wird verstärkt.“ Die zyperntürkische Journalistin und Aktivistin Sevgul Uludag, die seit Jahren das Thema der Vermissten erforscht, schrieb vor kurzem zu diesem Thema: „Das Schweigen ist Teil des Spiels. Während Millionen Dollars für Exhumierungen ausgegeben werden, sagen nur sehr wenige Leute, was sie wissen. Da, wo Angst und Heuchelei herrschen, werden die Verbrechen verherrlicht, und die Verbrecher werden straffrei bleiben und ihre Mentalität in die nächsten Generationen übertragen.“