Den Krieg ans Licht bringen
Der Knochen, den Katja aus der feuchten Erde zieht, ist gut 20 Zentimeter lang, dünn und leicht gebogen. Die zierliche 14-Jährige in einer grünen Tarnjacke begutachtet ihren Fund mit einer Mischung aus Ekel und Neugier. „Ist das vom Menschen?“, fragt sie laut. „Ja, eine Rippe.“ Katjas Lehrer Alexander Kolessow antwortet kurz und leise. Behutsam bettet er den Knochen auf ein Stück Plastikfolie neben andere Rippen, einen Oberschenkel, einen abgebrochenen Oberarm. Was sie hier zusammentragen, war einmal ein Mensch: Soldat, Zivilist, vielleicht auch mehrere.
In Schigri, einem 18000-Einwohner-Städtchen 500 Kilometer südlich von Moskau, liegen Hunderte, vielleicht Tausende Tote in der Erde. Unweit tobte 1943 die Panzerschlacht von Kursk, eine der entscheidenden Niederlagen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Zwei Jahre zuvor hatten deutsche Soldaten Schigri besetzt. Im Schulgebäude richteten sie ein Lager für Kriegsgefangene ein, ließen Stacheldraht spannen und Wachtürme errichten.
An diesem feuchten Julimorgen, 68 Jahre später, sind Katja und ihre Klassenkameraden früh aufgestanden, um nach den Toten des Lagers zu suchen. Auf dem Sportplatz hinter der Schule, unter einem rostigen alten Basketballkorb, haben sie eine Grube ausgehoben, sieben Meter lang, anderthalb Meter tief. Mit hohen Stiefeln und gehäkelten Baumwollhandschuhen hocken die Achtklässler im nassen Erdloch und stochern. Pferdeknochen holen sie aus dem schmatzenden Boden, eine Flasche, einen Topf, ein Stück Mensch. Es ist wie eine Schatzsuche unter Pfadfindern, nur dass in dieser Grube nicht gelacht werden darf, sonst schaut Lehrer Alexander mahnend und traurig herüber.
Rund 40 000 russische Jugendliche ziehen regelmäßig in den Sommerferien auf die ehemaligen Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs und zu den Massengräbern der Lager. Mit Spaten und Metalldetektoren suchen sie nach Gebeinen von Gefallenen. „Poiskowoje dwischenije“, „Suchbewegung“ nennt sich das Phänomen, die einzelnen Gruppen tragen oft patriotische oder militärische Namen wie „Kampf“, „Sieg“, „Schlacht“ oder „Hoffnung“. Katjas Gruppe, die aus einem winzigen Dorf am Nordrand des Kursker Oblastes nach Schigri gereist ist, nennt sich „Bürger Russlands“.
Der Sieg der Roten Armee über den Faschismus ist der ganze Stolz des Landes. Er hielt den Vielvölkerstaat schon zu Sowjetzeiten ideell zusammen, er tut es noch heute. Kein Feiertag ist wichtiger als der 9. Mai, der Tag des Sieges gegen die Deutschen, den die russische Regierung stets mit einer protzigen Militärparade auf dem Roten Platz begeht. An den Zweiten Weltkrieg, der in Russland Großer Vaterländischer Krieg heißt, erinnern überall im Land monumentale Mahnmale, Heldendenkmäler und Hunderte Museen. Unzählige ewige Feuer brennen in den Provinzstädten zu Ehren des unbekannten Soldaten.
Aber eben ihn, den unbekannten Soldaten, den einfachen Gefallenen, hat der Staat fast vergessen. Mehr als achteinhalb Millionen Rotarmisten sollen nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen sein. Sie wurden vom Josef Stalin als menschliches Material verheizt und oft ohne Erkennungsmerkmale in Massengräbern verscharrt. Während des Krieges wurde kaum aufgezeichnet, wo ein Soldat gefallen und begraben ist.
„Man weiß vom Weißen bis zum Schwarzen Meer nicht, wo einer liegt“, sagt Igor Zukanow bitter. Das mache die Suche so schwierig. Der 50-Jährige ist Leiter von 600 jugendlichen Suchaktivisten im Oblast Kursk. Er hat die regionale Bewegung vor 20 Jahren gegründet, früher leitete er im selben Gebiet die kommunistische Jugendorganisation Komsomol. In der Sowjetunion war die Suche nach den Gefallenen Sache des Bildungsministeriums, damals wie heute gingen unausgebildete Schüler mit dem Spaten ans Werk. In Moskau gibt man kleine Handbücher heraus, um den Jugendlichen die praktische Arbeit zu erklären.
Igor Zukanow ist von diesem Konzept überzeugt. „Eine Schule fürs Leben“, sei die Suchbewegung, wichtig für die seelisch-moralische und für die staatsbürgerliche Erziehung der Heranwachsenden. Mit einem nagelneuen weißen Lada brettert er zwischen den Grabungsstellen „seiner Kinder“, wie er sie nennt, hin und her. Tarnfleck trägt er selbstverständlich, wie alle Mitglieder der Suchbewegung, eine getönte Sonnenbrille und Herrensandaletten.
Weil Zukanow diesmal deutsche Gäste im Auto hat, hält er vor dem Gelände des deutschen Soldatenfriedhofs von Kursk-Besedino. Auf einem weiten Rasenareal stehen wie hingestreut hier und da jeweils drei steinerne Kreuze. Darunter liegen fein säuberlich in Einzelsärgen die Gebeine von 21 000 Wehrmachtssoldaten. „Die Deutschen machen eine ganz andere Arbeit als wir“, sagt Zukanow. „Die wissen genau, wo die Friedhöfe und die Gräber der Soldaten liegen.“ Die Wehrmacht hat zahlreiche Pläne und Verzeichnisse ihrer der Grabstätten hinterlassen. Seit Anfang der 90er Jahre sucht der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion die Gebeine der Gefallenen und bettet sie auf Zentralfriedhöfe um. Kursk ist bereits der 21. Friedhof, er wird im Oktober eröffnet, vielleicht sogar im Beisein des Bundespräsidenten.
Soviel staatliche Aufmerksamkeit, solch straffe Organisation wünscht sich auch Juri Smirnow, der Vorsitzender der Union der russischen Suchgruppen. „In Russland heißt es immer, die Erinnerung ist wichtig, aber unsere Regierung unterstützt uns absolut nicht genug“, klagt er. Die Bewegung werde zwar offiziell vom Bildungsministerium gefördert, habe aber keinen Einfluss. Geld habe es auch nur einmal gegeben, das war 1995. Dass die russische Armee seit drei Jahren selbst mit einem kleinen Suchbatallion nach Gebeinen gräbt, freut Smirnow ebenfalls nicht. Lachhaft und ineffektiv seien die, findet der Moskauer, vor allem weil sie nicht mit den erfahrenen jungen Leuten aus den Suchbewegungen zusammenarbeiten wollen. Aber so sei das eben in Russland: „Unser Staat beschäftigt sich lieber mit grandiosen Projekten als mit der Wirklichkeit.“
Im Museum des Ortes Schigri ist ein Bild ausgestellt von Chanapi Kubanow, einem 1942 gefallenen Artilleristen, den man 1991 in Schigri fand. Auf dem zweiten Bild Kubanows Witwe, die an die Fundstelle reiste. Foto: Erik Irmer
Zu den neuesten Projekten des Präsidenten Dmitrij Medwedjew gehört eine Geschichtskommission aus ehemaligen Militärangehörigen und Wissenschaftlern, die verhindern soll, dass die eine, offizielle Version der russischen Historie „verfälscht“ wird. Unlängst gab er ein Dekret heraus, nach dem die öffentliche Verunglimpfung der Roten Armee mit Geldbußen oder Gefängnis bestraft werden soll. Der Präsident will mit dieser Initiative wohl vor allem die baltischen Staaten in die Schranken weisen, mit denen man sich seit Jahren über die Geschichtsinterpretation streitet. In Tallinn, Riga und Vilnius werden die Rotarmisten eher als Besatzer denn als Befreier gesehen.
Zeichenlehrer Alexander Kolessow, der beim alten Schulgebäude in Schigri seinen Suchtrupp betreut, will von der Moskauer Initiative noch nie etwas gehört haben. „Im Sommer ist immer viel zu tun“, sagt er. Da sehe man kaum fern auf dem Land. Und selbst wenn er es gesehen hätte, der freundliche 54-Jährige mit dem dunklen Schnauzbart hätte sich wohl eines Urteils enthalten. „Das ist deren Sache“, sagt er nach kurzem Zögern. Seine Sache ist es, den Kindern die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu vermitteln. Zuerst erklärt er ihnen im Unterricht, wie sich die Schlachten zugetragen haben, wie heldenhaft die Soldaten die Heimat verteidigt haben, dann bringt er sie an die Orte der Vergangenheit. „Die Kinder lernen bei der praktischen Arbeit noch viel besser als aus Büchern“, ist Kolessow überzeugt.
Vor allem macht den Pubertierenden das Lagerleben Spaß. Zwei Wochen dürfen Katja und ihre Freunde in einem Klassenzimmer auf Isomatten campieren, Jungs und Mädchen zusammen. „Sehr interessant“ finden sie die Sucharbeit, beteuern die Schüler. In der Pause vor dem Abendessen sitzen sie beim Kartenspiel zusammen. Und warum ist so wichtig, die Gebeine zu suchen und zu begraben?„Wir machen das aus Dankbarkeit“, sagt Katja und dreht mit dem Finger eine braune Locke. „Die Soldaten sind gestorben und wurden vergessen. Wir versuchen ihnen ein neues Grab zu geben, damit sie in Frieden ruhen.“
Für alle „Bürger Russlands“ wäre es das Größte, ein richtiges, ein lesbares Medaillon zu finden. So nennt man die schwarzen Kapseln der Rotarmisten, in denen ein kleiner Papierstreifen mit ihren persönlichen Informationen steckte. Nur wenige haben die Medaillons getragen, manche wurden von den zahlreich marodierenden Grabräubern gestohlen und bei den restlichen kann man das Papier im Inneren nicht mehr entziffern, weil Feuchtigkeit durch den Schraubverschluss gedrungen ist. Von 10 500 Soldaten, die man in den vergangenen 20 Jahren im Oblast Kursk gefunden hat, konnten nur rund 1500 identifiziert werden.
Die Knochen aus der Grube hinter dem Schulgebäude von Schigri werden wohl namenlos bleiben. Nach dem Einsatz der Schüler lagert die örtliche Suchgruppe sie irgendwo in einem Schuppen ein. Bei der nächsten Gelegenheit sollen sie in einem der „Brudergräber“ des Ortes bestattet werden. So heißen die Massengräber auf den Dorffriedhöfen und am Straßenrand, wo unter einer großen Statue viele Gefallene und manchmal auch Zivilisten liegen. Einen zentralen Soldatenfriedhof für die Rotarmisten gibt es im Oblast nicht.
In der Vitrine im kleinen Stadtmuseum, zwischen rostigen Uniformknöpfen, und Gürtelschnallen, hat einer der vielen Unbekannten noch einen späten Ehrenplatz gefunden. Der Artillerist Chanapi Kubanow aus dem Nordkaukasus ist 1942 bei Schigri gefallen, 24 Jahre war er alt. Das Schwarz-Weiß-Bild zeigt einen ernsten jungen Mann im langen Mantel vor einer Fototapete mit Birkenstämmen. Museumsleiterin Musa Saizewa ist noch immer ein bisschen gerührt, wenn sie seine Geschichte erzählt.
Gleich bei einem der ersten Sucheinsätze 1991 haben sie Kubanows Gebeine gefunden. Das Medaillon mit seiner Nummer hielt er in der knöchernen Hand. Kubanows Witwe und seine Schwester, alte Frauen mit Kopftüchern, eilten aus dem nordkaukasischen Kurort Kislowodsk nach Schigri, um mit eigenen Augen zu sehen, wo ihr Chanapi vor all den Jahren starb. „Das war ein ganz besonderer Tag für uns alle“, sagt Saizewa. In der Glasvitrine hat sie auch ein Bild von den Verwandten Kubanows aufgestellt.
Die winzige 79-Jährige mit dem grauen Topfschnitt hat als Mädchen die Besatzung im Oblast erlebt, 15 Monate lang gab es wenig zu Essen und tägliche Angst. Später hat Saizewa als Russischlehrerin in Schigri gearbeitet. Seitdem sie im Ruhestand ist, kümmert sie sich nur noch um das Museum und unterstützt die Suchbewegung, wo sie kann. „Das wichtigste und teuerste, was wir haben, ist doch die Suche nach den Soldaten“, sagt Saizewa mit der energischen Stimme einer strengen, jungen Lehrerin. „Die Kinder müssen begreifen, dass hier ein Volk zu Recht seine Heimat verteidigt hat.“
Die Recherche zu diesem Text wurde gefördert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“