Das Tor zur Freiheit
(n-ost) – Arpad Bella ist ein Grenzgänger. Schon sein Leben lang. Auch in diesem Moment steht er mit einem Bein in Ungarn, mit dem anderen in Österreich. Die Mittagssonne treibt dem früheren Offizier der ungarischen Grenzwachen ein paar Schweißperlen auf die Stirn. Der Stacheldrahtzaun, der hier, nahe der ungarischen Stadt Sopron, über Jahrzehnte zwei Staaten trennte, steht nicht mehr. Doch die Ruhe ist geblieben: Ein paar Radfahrer, einige Pilzesammler, so gut wie keine Autos. Ein Hauch des Besonderen, wie ihn nur historische Orte umgeben, liegt über diesem Fleck Erde. „Was sich hier abspielte, glich dem Mauerfall“, sagt Arpad Bella. „Es waren Momente der Ergriffenheit, Angst und Freude.“Es war die Zeit der Perestroika, Ende der Achtziger Jahre. In Ungarn war der Reformprozess relativ weit fortgeschritten.
Im Februar 1989 beschloss die Führung in Budapest, die Grenzanlagen zu Österreich abzutragen. Im Mai wurde schließlich damit begonnen. Davon erfuhren auch die DDR-Bürger, und im Sommer rollte eine ungewöhnlich große Welle von ostdeutschen Touristen nach Ungarn. Viele hofften auf eine Lücke im Eisernen Vorhang. Trotz der andauernden Bewachung der Grenze gelang mehreren Hundert die Flucht in den Westen.Der Druck auf Ungarn wuchs. Für Grenzwächter Bella und seine Kollegen war es eine Phase der Ungewissheit. Auf die Flüchtlinge zu schießen, vertrug sich nicht mehr mit der politischen Einstellung des Landes. Der interne Befehl für die Grenzer lautete: Waffengebrauch nur noch im Selbstverteidigungsfall. Doch es sollte sich zeigen, dass in dieser Hinsicht vieles von der Erfahrung und politischen Prägung der jeweiligen Grenzkommandeure abhing.Dann kommt der 19. August 1989. Arpad Bella ist Mitte 40, Vater zweier Töchter, ein Mann mit Verantwortung. Fünf Grenzwächter befehligt er an dem Tag, als ungarische Oppositionelle im hohen Gras des Grenzgebiets ein Fest des Friedens feiern wollen. Sie nennen es das „Paneuropäische Picknick“.
Ungarn und Österreicher sind eingeladen, gemeinsam um ein Lagerfeuer zu sitzen, Speckbraten zu essen und einen Nachmittag lang von einem Europa ohne Grenzen zu träumen.Dafür soll um 15 Uhr in einer symbolträchtigen Zeremonie das alte Grenztor nahe Sopron geöffnet werden. Es ist seit Jahren unbenutzt und gleicht inmitten der Wiesen und Wälder mehr einem alten Viehgatter. Bella sieht dieses längst verschwundene Bild vom Grenztor noch heute klar vor sich. Drei Stunden lang sollen die österreichischen Nachbarn dort passieren dürfen, um an dem Picknick teilzunehmen. Arpad Bellas wichtigste Aufgabe ist es, alles unter Kontrolle zu behalten. Doch genau das misslingt ihm an diesem Tag im August.Es ist kurz vor drei, als Bella mit seinem österreichischen Kollegen am Grenzzaun steht. Der Ungar trägt wie immer seine weiße Dienstmütze, dazu ein weißes Hemd mit Schulterklappen und die Uniformhose mit der scharfen Bügelfalte.
Die beiden Grenzer treffen letzte Absprachen. Dann, plötzlich, auf der Anhöhe des Weges, sehen sie eine Menschengruppe. Von ungarischer Seite steuert sie geradewegs auf das Tor zu; 150 bis 200 Personen und ein großes Schweigen. „Ich dachte zuerst, es sei die offizielle Delegation und ging ihnen in Richtung Tor entgegen“, erinnert sich Bella. Doch das entpuppt sich als Irrtum. Es sind Ostdeutsche, erkennt Bella nach wenigen Minuten. Nicht zuletzt das Mausgrau ihrer Kleidung verrät sie. „Für Fragen und Antworten blieb da keine Zeit mehr.“ Auf den letzten Metern fängt die Menge an zu rennen und als sie den Grenzzaun erreicht, stemmen sich die ersten mit aller Macht gegen das Tor. Bei diesem Anblick hatte Bella nur einen Gedanken: „Was bin ich für ein Pechvogel! Man wurde ja schon bei einem einzigen Flüchtling zur Verantwortung gezogen.“Die Abzäunung öffnet sich. Wie Schleusentore, die dem Druck der Wassermassen nicht mehr standhalten können, sagt Bella.
Im Gedränge bricht Hektik aus. Alle wollen rüber. So schnell wie möglich. Die meisten sind junge Männer und Frauen, Familien mit Kindern. Über ihren Schultern hängen Taschen, kleine Rucksäcke. Wohl nur das Nötigste, denkt Bella damals. Einige fassen sich an den Händen. Schnell verlieren sich einige von ihnen aus den Augen. Es herrscht Chaos. Aber Arpad Bella bewahrt die Fassung, auch als die Deutschen ihn und seine Kollegen beiseite schieben.Als die Flüchtlinge das Tor passiert haben, brechen viele von ihnen in Tränen aus. Bella ist bei diesem Anblick selbst gerührt. Einige reißen im Freudentaumel die Arme nach oben. Endlich drüben! Der ersten Flüchtlingswelle folgen weitere und Grenzwächter Bella befiehlt seinen Männern, zur Seite zu schauen. „Wir hätten durchaus schießen können. Schließlich schubsten sie uns zur Seite. Aber ich sagte meinen Männern: Lasst die Herrschaften durch. Wir haben bei der ersten Gruppe nichts unternommen. Es wäre Wahnsinn, bei den anderen etwas zu tun.“ Rund 1000 Ostdeutsche strömen an diesem Tag bei Sopron in den Westen. Es ist die größte Massenflucht von DDR-Bürgern seit dem Mauerbau.Und einige wurden offenbar schon erwartet.
„Ich sah, wie sie hinter einem Gebüsch Sekt tranken, kalten Sekt aus Kristallgläsern! Es waren Flüchtlinge mit ihren West-Verwandten.“ An diese Szene erinnert sich Laszlo Nagy, einer der Organisatoren des Picknicks. Und sie bereitete ihm lange Kopfzerbrechen. Auch sonst werfen die Ereignisse Fragen auf: Wie war es möglich, dass eine so große Gruppe DDR-Bürger sich scheinbar unbemerkt der Grenze näherte? Wieso versetzte die ungarische Führung nach der gestiegenen Zahl von Fluchtversuchen nicht mehr Soldaten in Alarmbereitschaft?Nagy ist mittlerweile überzeugt, dass die Regierung die Vorfälle absichtlich eskalieren ließ. Man wollte die sowjetische Reaktion testen. „Wir Oppositionellen haben eigentlich mit der Regierung zusammengearbeitet, ohne, dass wir es wussten.“ Und Moskau blieb ruhig. Nagy glaubt auch, dass der westdeutsche Geheimdienst die Finger im Spiel hatte: „Sie haben alles dafür getan, dass diese Flucht klappt. Die Stasi hat dagegen gearbeitet, aber sie war einfach zu schwach.“Dass alles auch hätte anders kommen können, zeigt sich zwei Tage später. Am 21. August erschießt ein junger ungarischer Grenzsoldat einen 36-jährigen Architekten aus Weimar.
Der Deutsche wollte etwas weiter südlich über die Grenze flüchten. Die Ereignisse zwingen Ungarn zu schnellen Entscheidungen. Drei Wochen später, in den frühen Morgenstunden des 11. September, öffnet das Land seine Grenzen und lässt alle DDR-Flüchtlinge in den Westen reisen. Ein gewaltiges Loch im Eisernen Vorhang tut sich auf. Allein in den ersten beiden Tagen nach der offiziellen Grenzöffnung reisen etwa 14.000 Ostdeutsche aus. Ungarn war ein Fass mit Überdruck. Knapp zwei Monate später fällt in Berlin die Mauer.Arpad Bella rechnete mit einer Vorladung und endlosen Verhören. Aber die Geschichte verschonte ihn. „Alles wurde unter den Teppich gekehrt“, sagt er. „Wenn die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte, wäre ich für mindestens fünf Jahre im Gefängnis gelandet.“ Stattdessen wird er 1992 zum stellvertretenden Abteilungsleiter befördert und zieht nach Budapest. Fünf Jahre später geht er als Oberstleutnant in Rente.
Arpad Bella am historischen Grenzübergang nahe Sopron / Nicholas Brautlecht, n-ost
Nun schreibt er ein Buch über die Ereignisse während des Grenzpicknicks. Er selbst soll darin nur eine Nebenrolle spielen. „Ich will mich nicht so wie andere als Held aufspielen. Ich handelte damals wie ich handeln musste.“ Gleichwohl wurde Arpad Bella 1999 mit dem ungarischen Verdienstkreuz ausgezeichnet. Für den Ungar bleibt aber der Augusttag vor 20 Jahren die wirkliche Ehrung. „Diese Menschen, die den Stacheldraht durchbrechen. Die Gesichter, die ich damals sah – das war der größte Ausdruck von Freiheit.“