Bulgarien

Gerettet und verkauft

Drei Steinplatten stehen hinter einer Kirche im Zentrum Sofias. Sie erzählen die Geschichte von Hanna Lorer, einer heute 80-jährigen Dame mit kurzen weißen Haaren. Es ist ihre Geschichte und die 50 000 anderer Juden, die den zweiten Weltkrieg überlebt haben. Wenige hundert Meter entfernt liegt ein anderer, kleiner Gedenkstein auf dem Boden, eingerahmt von einer niedrigen Hecke. Er erzählt die Geschichte von Victor Mizrahi. Victor und seine Familie sind die letzten Mizrahis in Skopje, alle anderen sind in Treblinka ermordet worden, und mit ihnen rund 10.000 weitere Juden. Beide Geschichten gehören zusammen, auch wenn sie lange nicht zusammen erzählt wurden. Und bis heute fällt es in Bulgarien schwer, die Zusammenhänge dieser Ereignisse zuzugeben.

Die Geschichte von Hanna Lorer beginnt 1928. Sie kam im „Tal der Rosen“ zur Welt, in der Region Bulgariens, die für ihr Rosenöl berühmt ist. In der Stadt Kazanlak bewohnte ihre Familie ein Haus in „Klein Palästina“. So wurden die zwei, drei jüdischen Straßen genannt. Der Vater besaß ein Porzellangeschäft. Außer Juden gab es im Viertel auch Türken und Bulgaren. Man respektierte sich gegenseitig, besuchte sich zu religiösen Festen. Antisemitismus war kaum verbreitet. Es herrschte wie vielerorts Anfang des vergangenen Jahrhunderts die für das ehemalige Gebiet des Osmanischen Reichs typische ethnische Toleranz. „Wir fühlten uns als bulgarische Bürger“, erzählt Hanna Lorer.

„Ein Erwachen aus dem Winterschlaf“

Ihre Kindheit erlebte sie als Idylle, in der es keinerlei Anzeichen dafür gab, was passieren sollte, nachdem Bulgarien 1941 dem Dreimächtepakt beitrat und so zum Verbündeten Nazi-Deutschlands wurde. Zuvor hatte die Regierung das „Gesetz zum Schutz der Nation“ verabschiedet, das sich an den Nürnberger Rasse-Gesetzen orientierte. Die anti-jüdischen Verordnungen erkannten den Juden alle politischen Rechte ab, sie durften bestimmte Berufe nicht ausüben. Ehen mit nicht-jüdischen Personen wurden untersagt. Die Juden von Sofia wurden aus der Hauptstadt ausgewiesen, die meisten Männer in Arbeitsbataillone gezwungen.

Die glückliche Kindheit war vorbei. Das wurde Hanna Lorer an dem Tag klar, als sie mit ihrer jüdischen Freundin Lili zum ersten Mal mit dem gelben Stern am Revers zur Schule gehen musste. Es hatten sich auch schon faschistische Jugendorganisationen gegründet. Doch ihre Mitschülerinnen und die Klassenlehrerin umarmten sie: Ihr bleibt dieselben wie vorher. Für uns macht der Stern keinen Unterschied!

Dennoch begann die Zeit der Unterscheidung. Manchmal wurden auch Steine geworfen, Scheiben eingeschmissen, Hakenkreuze an Wände geschmiert. Nachbarn wendeten sich ab, gemeinsame Feste wurden nicht mehr gefeiert. Der Vater musste den Laden schließen, im Schaufenster das Schild: Jüdisches Geschäft. „Wir waren überrascht und enttäuscht. Es war, als wären wir aus einem langen Winterschlaf aufgewacht. Plötzlich war alles anders.“

1942 mussten auch die Juden aus Kazanlak ihre Stadt verlassen. Das große Haus, in dem Familie Lorer gewohnt hatte, die Bilder, die Möbel, alles mussten sie zurücklassen. Das kleine Glöckchen über die Tür, das der Vater angebracht hatte, um Besucher anzukündigen, klingelte zum letzten Mal, als sie die Tür abschlossen und die Polizei sie abholte. „Ich weiß noch wie ich dachte: Wie kann es sein, dass uns niemand hilft?“

Doch am Bahnhof, wo Viehwagons bereitstanden, um die Juden nach Nordbulgarien zu bringen, erlebten sie eine Überraschung. Bulgaren, Nachbarn, Freunde hatten sich eingefunden, um sie zu verabschieden. Sie steckten den Menschen Brot zu, Käse und Obst. Man weinte. Es war ein Trost für die Juden aus Kazanlak, dass den anderen ihr Schicksal offenbar doch nicht egal war.

Das Vorgehen gegen die Juden ließ vor allem die Menschen in Sofia nicht gleichgültig. Gleich mit den ersten anti-jüdischen Maßnahmen hatten sich Proteste in der Bevölkerung geregt. Verbände von Intellektuellen und Handwerkern reichten Petitionen ein. Gleichzeitig bereitete die bulgarische Regierung die Auslieferung der 48.000 in Bulgarien lebenden Juden an die Deutschen vor. Im März 1943 sollte der erste Transport aus der südwestbulgarischen Stadt Kjustendil abgehen. Juden aus Kjustendil, die von dem Vorhaben erfuhren, wendeten sich Hilfe suchend an den von dort stammenden Parlamentsabgeordneten Dimiter Peschew. Es folgte ein Wettlauf mit der Zeit. Nach intensiven Debatten und Eingaben weiterer Abgeordneter wurde die Deportation schließlich ausgesetzt.

Im Verlauf der weiteren Monate setzte sich vor allem die Kirche für die Juden ein. Der orthodoxe Metropolit Stefan heftete sich den Davidstern an, nahm Juden in einem Gottesdienst in Schutz und ermahnte König Boris III., die Judengesetze zu streichen und die Verfolgung zu beenden. Nicht ohne Erfolg: Bis zum Ende des Krieges hielt die Regierung die Deutschen hin. Am 31. August 1944, kurz vor dem Einmarsch der sowjetischen Armee, wurden die antijüdischen Gesetze aufgehoben. Die bulgarischen Juden waren gerettet.

Wenn Bulgarien seine Juden gerettet hat, wo ist dann meine Familie, fragt Victor Mizrahi. Der 58-Jährige sitzt in seinem Büro in der mazedonischen Hauptstadt Skopje. 84 Mitglieder der Mizrahis, einer uralten jüdisch-mazedonischen Familie, fanden in Treblinka den Tod. Die Älteste, Victors Mizrahis Großmutter, war 105 Jahre alt, der Jüngste ein Baby von wenigen Monaten.Deutschland hatte Mazedonien und Nord-Griechenland besetzt und anschließend als Gegenleistung an den Bündnispartner Bulgarien abgegeben. Das galt jedoch nicht für die Juden aus Mazedonien und Nordgriechenland. Bulgarien hatte diese eroberten Gebiete von Deutschland überlassen bekommen. Im März  und April 1943 trieben bulgarische Soldaten insgesamt 11.384 Juden aus den bulgarische besetzten Gebieten zusammen. Man raubte ihnen ihr Hab und Gut, sperrte sie in Waggons und brachte sie nach Treblinka. 98% der jüdischen Gemeinde in Mazedonien und Nordgriechenland wurden von den Nazis ermordet. Die Auslieferung war eine der effektivsten „Säuberungsaktionen“ der Nazigeschichte.

Victors Eltern überlebten nur, weil der Vater als Partisan in den Bergen kämpfte und untergetaucht blieb. Als sie am Ende des Krieges zurück nach Skopje kamen, war niemand mehr da. Familie, Freunde, Nachbarn, eine ganze Welt – verschwunden.



Hanna Lorer erzählt von früher.  / Dobrin Kashavelov, n-ost


Eine der „effektivsten“ Säuberungen

„Es heißt, Bulgarien habe seine Juden geschützt, aber man muss auch davon sprechen, was hier bei uns passiert ist.“ Victor Mizrahi blättert in einem dicken Buch, darin ist die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Mazedonien dokumentiert. In mühsamer Recherchearbeit wurde das jüdische Leben vor dem Krieg rekonstruiert: Wer hatte in welchem Haus gelebt? Wie groß war eine Familie gewesen, wie hießen die Mitglieder? Es war fast niemand übrig, der Zeugnis ablegen konnte. 98 Prozent der jüdischen Gemeinde waren von den Nazis ermordet worden. Die Auslieferung: eine der effektivsten „Säuberungsaktionen“ der Nazigeschichte. „Die bulgarische Regierung ist verantwortlich für den Holocaust in Mazedonien“, sagt Victor Mizrahi.

Doch tut sich Bulgarien bis heute schwer damit. Albena Taneva, Soziologin an der Universität in Sofia mit dem Fachgebiet „Geschichte des Holocaust“, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte der Rettung der bulgarischen Juden bekannt zu machen. Auch in Bulgarien sei sie vielen nicht im Detail bekannt. Während des Kommunismus geriet die Rettungsgeschichte fast in Vergessenheit. „Kein Wort stand in den Geschichtsbüchern über die Rettung oder den Holocaust überhaupt. Ganze Generationen wurden nicht informiert“, beklagt sie. Erst nach der politischen Wende wurde das Thema wieder entdeckt und hat sehr emotionale Reaktionen hervorgerufen, sagt Albena Taneva. „Da gab es plötzlich etwas Gutes und Positives in der jüngsten Geschichte. Die meisten Bulgaren sind sehr stolz darauf.“

Und diese Empfindung will man sich nicht durch Schuldgefühle nehmen lassen. Mazedonien und Nordgriechenland? Dafür fühlt man sich nicht verantwortlich, klagt Angel Wagenstein. Er ist bulgarischer Jude, ein bekannter Schriftsteller und Regisseur. Er hat sich immer wieder zu dem Thema geäußert, in Zeitungen und Aufsätzen. Mit seiner Position eckt er an in der bulgarischen Öffentlichkeit. Denn er lässt nicht locker: Die Bulgaren seien nicht bereit, ihre Schuld anzuerkennen. Tatsachen würden verfälscht. Haarspalterisch werde darüber diskutiert, wer die wahre Kontrolle in den besetzten Gebieten hatte. „Im Fernsehen und in den Zeitungen wird gesagt, das waren von den Deutschen besetzte Gebiete. Das stimmt nicht.“

Angel Wagenstein geht noch einen Schritt weiter. Für ihn ist auch die Rettung selbst ein „Mythos“. Allein die Rolle der orthodoxen Kirche in Bulgarien sei hervorzuheben, so Wagenstein. Auch lässt er gelten, dass Antisemitismus in Bulgarien kein Massenphänomen war. Wagenstein ist aber überzeugt, dass es vor allem dem baldigen Vorrücken der sowjetischen Armee und dem Tod König Boris III. im August 1943 zu verdanken ist, dass die lediglich aufgeschobenen Deportationen nicht mehr ausgeführt wurden. „Man kann nicht von einer Rettung sprechen. Die bulgarischen Juden überlebten einfach.“

Rettung oder Überleben? Wer war Retter, wer war schuldig? Albena Taneva will Wagensteins Kritik, die auch von einigen Historikern vertreten wird, nicht gelten lassen. Für sie handelt es sich um eine Geschichte mit Vorbildcharakter, einen beispielhaften Beweis für die Macht der Zivilgesellschaft. Die Geschehnisse in Mazedonien und Nordgriechenland stünden zur Rettung nicht im Widerspruch – im Gegenteil. „Was in den besetzten Gebieten geschah, beweist doch, dass es sich in Bulgarien ganz klar um eine Rettung handelt. Was dort passierte, war die offizielle Politik der damaligen bulgarischen Regierung. Dasselbe wäre in Bulgarien passiert ohne den Widerstand der Zivilgesellschaft.“

Wie Albena Taneva schauen die meisten Bulgaren auf das Gute. So will man sich der Welt zeigen. Kritiker wie Wagenstein haben es schwer in einem Umfeld, das die Augen vor Schattenseiten verschließt. Im Frühjahr dieses Jahres sollte eine Straße in Sofia nach dem damaligen Nazideutschland treuen Premierminister und überzeugten Antisemiten Bogdan Filov benannt werden. Der Aufschrei der bulgarischen jüdischen Gemeinde in Israel vereitelte das Vorhaben.

Immerhin bekannte sich der bulgarische Präsident Georgi Parvanov vergangenes Jahr in Israel zum ersten Mal öffentlich zur Mitschuld Bulgariens an der Vernichtung der 11.000 mazedonischen Juden. Von der mazedonischen jüdischen Gemeinde wurde das als erster Schritt begrüßt. Kritiker sehen indes außenpolitische Taktik am Werk, um die guten Beziehungen zu Israel und den USA nicht zu gefährden, wo ein solcher Schritt lange gefordert worden war. In der bulgarischen Bevölkerung wurde von dem Bekenntnis dagegen kaum Notiz genommen. Und die „geretteten“ bulgarischen Juden warten bis heute auf eine Entschuldigung für Zwangsumsiedlung, Konfiszierung des Eigentums oder Zwangsarbeit. Angel Wagenstein etwa bekommt eine Zwangsarbeiter-Rente aus Deutschland. „Ich bekomme dieses Geld nicht von Bulgarien. In Bulgarien gelte ich als gerettet. Aber für die Deutschen bin ich ein Opfer.“

Wer also ist schuldig? Wer ist das „wir“ in dem Satz: Wir haben die Juden gerettet? „Schuld ist etwas sehr persönliches“, sagt Hanna Lorer, die dem Holocaust knapp entging. „Es gibt keine Kollektivschuld, es gibt auch keine Kollektivretter.“ Sie hat überlebt, „aber das ist das Ergebnis vieler Faktoren“. Für sie selbst zählt nur das, was sie fest in ihrem Herzen bewahrt hat: Die Erinnerungen daran, wie Menschen in Waggons eingepfercht waren, aber auch an eine Lehrerin, die damals zwei Schulmädchen umarmt und ihnen gesagt hat, dass sie auch mit dem gelben Stern noch dieselben seien wie vorher.

Die letzten vier Mizrahis, die einst eine alteingesessene, stattliche Skopjer Familie waren,  träumen von etwas, das auch in der Zukunft von ihnen bleiben wird. Heute entsteht im ehemals jüdischen Viertel ein Zentrum zur Erinnerung an den Holocaust  – eines der größten Holocaust-Museen Europas. Das Zentrum wird ihr Denkmal sein in einer Stadt, in der die Spuren vom jüdischen Leben gänzlich ausgelöscht sind. Deren Gemeinde aus 200 Menschen besteht, und die immer mehr in der Mehrheitsgesellschaft aufgeht.

Die Recherche zu diesem Text wurde gefördert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.


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