Russland

Kriegsgedenken in der Provinz

Das Petersburger Hinterland im Zweiten Weltkrieg

(n-ost) – Wir erreichen Sologubowka am Vorabend des 9. Mai, dem „Tag des Sieges”. Er wird im ganzen Land traditionsgemäß mit Militärparaden und Feuerwerken, Volksfest und Konzerten gefeiert. Wir wollten sehen, wie dieser Tag in einer Gegend begangen wird, die während des Krieges in deutscher Hand war und nur 15 Kilometer von der Front entfernt lag. Dort, wo die einheimische Bevölkerung fast drei Jahre lang mit den deutschen Besatzern Seite an Seite gelebt hat.

Es ist Feiertag, aber das Dorf wirkt wie ausgestorben. Nur an zwei Häusern weht eine Fahne, vermutlich wegen des Feiertags. An einem alten Holzhaus - die rote sowjetische Fahne, und an dem moderneren Haus gegenüber - die russische Trikolore. Nur Radio und Fernseher erinnern daran, dass es ein besonderer Tag ist. Wie eine Geräuschkulisse hört man aus den Häusern Lieder und Märsche von der hauptstädtischen Parade  – „Der Tag des Sieges, wie weit er doch noch vor uns lag“. Aber die Menschen hier scheinen ganz andere, alltägliche Sorgen zu haben: Im Garten müssen die Kartoffeln in die Erde.

„Zwei, drei Tage – Leningrad kaputt“

Von den Einheimischen sind nur noch wenige derer am Leben, die sich an den Krieg und die Besatzung erinnern. Nadeschda Aleksejewna Lysowa (83) und ihre Tante Ariadna Oskarowna Kont (87) gehören zu diesen wenigen. Als 1941 der Krieg ausbrach, war Nadja gerade mal 15 und Ariadna 19 Jahre alt.

„Als die Deutschen kamen, saßen wir vor dem Haus, und es war so fürchterlich still”, erzählt Ariadna. „Unsere Leute waren weg. Aus dem Dorf sind viele noch kurz vorher in den Wald geflüchtet, aber wir saßen einfach da. Dann kamen drei Männer auf einem Motorrad. Mit so einem Beiwagen. Sie trugen lange schwarze Mäntel. Das haben sie bestimmt schon mal im Kino gesehen? Als die Deutschen uns anriefen, hatten wir furchtbare Angst, aber wird sind trotzdem hingegangen. Und die haben dann gesagt: 'Zwei, drei Tage – Leningrad kaputt'. Uns ist ganz mulmig geworden...”

Die Deutschen sind am 29. August 1941 in Sologubowka einmarschiert. Das ist zufällig auch der Kirchenfeiertag Maria Himmelfahrt, an dem traditionsgemäß ein Dorffest stattfindet. Aber 1941 wurde er zum Trauertag. Die Alteingesessenen erinnerten sich auch viel später noch daran, wie das Dorf von der sowjetischen Luftwaffe in Brand gesteckt wurde. Wie die Menschen mit Wassereimern rannten, um ihre brennenden Häuser zu retten und dabei von den eigenen Piloten und ihren Maschinengewehren erschossen wurden. Denn die sowjetischen Frontkommandanten hatten den Befehl erteilt, den Feind zu zerstören: ohne Rücksicht auf die eigene Bevölkerung.

„Als die Deutschen kamen, wurden wir bombardiert. Viele Gebäude sind dabei abgebrannt. Und die Deutschen beschlagnahmten auch Häuser. In unserem wurde die Kommandantur eingerichtet”, erzählt Ariadna. Die Tatsache, dass das Dorf nicht von den Deutschen, sondern von den eigenen Truppen bombardiert wurde, ist nach wie vor ein Thema, dem man gerne aus dem Weg geht. In 68 Jahren hat sich daran wenig geändert. Die Einheimischen sind es leid und wollen nicht daran erinnert werden. Auch heute muss man wieder vorsichtig sein, damit man nicht plötzlich der Geschichtsfälschung beschuldigt wird.

Der Wahrheit verpflichtet?

Denn der russische Präsident Dmitrij Medwedjew hat eine „Kommission zum Schutz der Geschichtsschreibung“ ins Leben gerufen. Diese soll „Fälschungsversuchen”, die sich gegen die Interessen Russlands richten, entgegen wirken. Vielen  bereitet dieser Vorstoß Sorgen. Denn wenn der Staat allein entscheiden darf, was historisch wahr oder falsch ist, wird es nur noch eine gültige Interpretation der Sowjetgeschichte geben, und mehr noch: Alle anderen Versionen können strafrechtlich verfolgt werden. Damit wäre es erst einmal vorbei mit der Wahrheit über diesen Krieg.

Wem diese Kommission verpflichtet ist, zeigt sich anhand ihrer Mitglieder: der Geheimdienst FSB, die Spionage-Abwehr, das Innenministerium (MID), das Justizministerium und sogar der Oberste Generalstab der Russischen Armee sind vertreten. Unter den 28 Mitgliedern der Kommission sind nur eine Handvoll professionelle Historiker.


Im heutigen Russland existieren zwei Erinnerungen und „Wahrheiten“ über den Krieg. Die offizielle Wahrheit behauptet: „Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen.” Und zum anderen ist da eine ganz persönliche, individuelle Wahrheit, ein Gedächtnis, das sich an viel mehr erinnert.

Hier nur zwei aktuelle Beispiele für die offizielle Version der Wahrheit. Im Leningrader Gebiet soll eine Mülldeponie gebaut werden. Leider ausgerechnet an einem bedeutenden Kriegsschauplatz, wo es für Suchmannschaften unendlich viel zu tun gebe. Bis heute gibt es keine genauen Angaben, wie viele Soldaten dem „Großen Vaterländischen Krieg“ zum Opfer gefallen sind. Das militärhistorische Zentrum des Verteidigungsministeriums spricht von 30.000 Grabstätten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Dort ruhten etwa sieben Millionen „Beschützer des Vaterlands” in Frieden. Bisher konnten jedoch nur 2,5 Millionen davon identifiziert werden. Entsprechend liegen immer noch 4,5 Millionen „unbekannte” Soldaten in den Gräbern.

Zweites Beispiel: Das „Suchbataillon des Leningrader Militärbezirks“ wurde 2006 auf Anweisung des Präsidenten ins Leben gerufen, um auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs nach sterblichen Überresten und unbekannten Grabstätten zu suchen. Ich kann mich noch an die Jubelrufe in den Medien erinnern: „höchste Zeit, sich dieses Themas einmal fachmännisch anzunehmen”. Doch schon in diesem Jahr, nach der Identifizierung von 3500 Gefallenen und 4700 entschärften Sprengkörpern, soll Schluss sein. Als Grund für die Auflösung der Suchgruppe wurden unzureichende Mittel angeführt.

Die Gesamtzahl der sowjetischen Kriegsopfer unterliegt starken Schwankungen. 1946 hat Stalin die Zahl sieben Millionen genannt. Unter Chruschtschow wurden es 20 Millionen. Während der Perestrojka dann 27 Millionen. Im Moment machen Angaben die Runde, die Sowjetunion habe im Zweiten Weltkrieg 43,3 Millionen Menschen verloren hat, darunter etwa 16,4 bis 17 Millionen Zivilisten.

Bewohner unter Generalverdacht

Sologubowka hat Glück gehabt. Die umliegenden Dörfer Apraksino und Woronowo, wie auch hunderte kleinerer Dörfer im Leningrader Gebiet, gibt es nicht mehr. Die Deutschen haben sie dem Erdboden gleichgemacht. In dieser Gegend haben Kämpfe stattgefunden, die zu den blutigsten des Zweiten Weltkriegs gehören. Auch heute noch erkennt man die Verwüstungen, die der Krieg hinterlassen hat. Das Gebiet ist regelrecht übersät von Bombentrichtern und Schützengräben. Die benachbarten Wälder – ein einziges großes Massengrab. Immer noch finden Suchgruppen monatlich 3000 Rotarmisten, und das schon seit neun Jahren.

Nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt, befindet sich die russischen Kriegsgräbergedenkstätten Nevskij Pjatatchok und Sinjavinskier Höhen. An diesen Orten gab es mehrere gescheiterte Versuche, den Belagerungsring um Leningrad zu durchbrechen. Dabei müssen mehrere Hunderttausende Soldaten umgekommen sein. Allein die Zahl der Opfer bei den Sinjavinskier Höhen beläuft sich auf 125.000 Soldaten.

Außer der Zwangsarbeit, dem Hunger und der Kälte war es vor allem die ständige Angst vor den Besatzern, die den Bewohnern der besetzten Dörfer und Städte zusetzte. Und dann kam nach der lang erhofften Befreiung die Angst vor den eigenen Leuten. Viele Jahre lang haftete an ihnen die Bezeichnung „Bewohner des besetzten Gebietes” wie ein Kainsmal. „Sie haben auf jedes Wort aufgepasst. Ständig wurden wir verhört – und was wissen sie von dem und von dem, was hat der während der deutschen Besatzung gemacht?“

Die russische Regierung hat ihren Bürgern in diesem Jahr ein „Geschenk“ zum Tag des Sieges gemacht. So soll im Strafgesetzbuch der Russischen Föderation ein neuer Tatbestand „Wiederbelebung des Faschismus” aufgenommen werden. Es droht eine Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren und eine Geldstrafe bis zu einer halben Million Rubel. Interessant dabei ist, wer danach ein Anhänger des Faschismus ist. Laut Gesetzentwurf sind das all jene, „die auf dem Gebiet der Sowjetunion mit den Besatzerbehörden zusammen gearbeitet haben”. Wenn man will, kann man so sehr viele Leute der Kollaboration beschuldigen. Sogar Ariadna.

„Ich habe gearbeitet, wo es was zu Essen gab. Etwa irgendwo sauber machen”, erinnert sich Ariadna. „Meine Mutter hat Wäsche gewaschen und ich habe ihr geholfen. Manchmal wurden wir auch übers Ohr gehauen. Andere haben sehr gut bezahlt – sie haben uns einen Laib Brot gegeben oder irgendwas anderes. Ich habe für einen Deutschen, wahrscheinlich war es ein Schneider, Bettwäsche in Ordnung gebracht. Und er hat mir von seiner Ration eine Stulle geschmiert: 'Na, nimm schon...' Später mussten wir in Turyschkino Schützengräben ausheben. Das war schon 1943. Die Front war da ganz nah.”
Kein Vergessen: Das Schlachtfeld im Petersburger Hinterland. Foto: Silvana Wedemann

Zur Flucht gezwungen

1943 waren die Dörfer wie ausgestorben. Die Politik der verbrannten Erde. Bei ihrem Rückzug haben die Deutschen die Dorfbewohner vor sich her gejagt. Sie wurden nicht alle als Arbeitskraft gebraucht, es ging einfach nur darum, das Land leer zurück zu lassen.

„Und dann suchten sie sich die Jüngsten aus: 'Du, du, du, mitkommen. Ihr macht für uns die Wäsche'. Der Sanitätswagen hat uns dann nach Wojtolowo gebracht”, erzählt Ariadna. „Nach ungefähr anderthalb Monaten hieß es: 'Die Russen greifen an, wir müssen hier weg.' Sie haben uns mitgeschleppt. So sind wir  kreuz und quer durch Estland, Lettland und Polen geirrt.”

„Wir sind die ganze Zeit gelaufen. Die Wege waren vor lauter Matsch kaum begehbar und wir haben gefroren. Wir hatten nichts an den Füßen. So sind wir durch Litauen und Lettland gelaufen. Am 3. Juli wurden wir in der polnischen Stadt Nowe Święciany befreit."

Dort hatten sich Nadeschda, ihre Mutter und noch ein paar andere Leute auf einem verlassenen deutschen Gutshof versteckt. „Zwei Tage haben wir in dem Keller gesessen. Ohne Essen, ohne Wasser, ohne Schuhe. Später kamen noch Polen dazu. Sie hatten ein Kreuz mit Christus bei sich. Sie beteten irgendwie anders. Eines Abends klopfte jemand an den Keller. Wir hatten alle Angst, es war aber ein russischer Aufklärer. Ein junger Kerl. Wir haben ihn umarmt und geküsst! Bei Tagesanbruch sind wir nach oben auf die Straße gegangen. Die Soldaten haben uns Weizenbrei ausgeschenkt und mit irgendwelchem Fett übergossen. Dieser Brei ist wie Honig runter gegangen... Na und dann haben wir den Nachhauseweg angetreten. Im August waren wir schon wieder zu Hause. Der Weg nach Wojtolowo war gesperrt, es hieß, dass das Dorf vermint sei. Der Krieg war noch in vollem Gange 1944....”

„Wir haben uns die Konzerte zum 9. Mai angeschaut und geweint. Wir haben uns wieder an den Krieg erinnert. Als wir jung waren, haben wir versucht, alles zu vergessen. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie wir das ganze überhaupt überlebt haben”, sagt Ariadna.

Wir hatten in Sologubowka an diesem Tag noch mehrere Treffen, die der Begegnung mit Ariadna und Nadja sehr ähnelten. Sie waren erschütternd. Obwohl sie in vielerlei Hinsicht sehr typisch waren. Millionen teilten ein ähnliches Schicksal. Vor dem Hintergrund der gewaltigen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges ist die Lebensgeschichte dieser „kleinen” Menschen, die weder Helden noch Täter sind, so unscheinbar wie ein Schatten. Aber letztendlich setzt sich der ganze Krieg aus Menschenschicksalen zusammen. Und der einfache Mensch wird zum Haupthelden.

INFOKASTEN:

Das Leningrader Gebiet war gleich zu Beginn des Krieges im Sommer 1941 von den Deutschen okkupiert worden. Aus der Akte der „Untersuchungskommission zu den Kriegsverbrechen der deutsch-faschistischen Besatzer im Leningrader Gebiet“: Tod durch Erschießen: 6.265, Tod durch Erhängen: 876, Tod durch Folter: 23.899, umgekommene Kriegsgefangene: 142.953, Zwangsarbeiter: 253.230. Im Leningrader Gebiet gab es 35 Konzentrationslager. Diese Angaben beruhen auf einer Erhebung aus dem Jahre 1944 und sind noch lange nicht vollständig. In Wirklichkeit liegt die Anzahl der Opfer wohl viel höher. Niemand kann genaue Angaben machen. An den einen oder anderen erinnern sich nur noch die Verwandten oder Nachbarn.

Valeriya Yaronovetskaya und Silvana Wedemann
ENDE

Nachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0


Weitere Artikel