Griechenland

Ein Menschenmosaik im Zentrum von Athen

Ein Mädchen fährt vorsichtig mit einen kleinen Plastikwagen über eine mit Kieselsteinen bedeckte Fläche. Drum herum stehen frisch gepflanzte Bäumchen, sorgfältig eingesäumt mit kleinen Steinen. Es riecht nach frischer Erde. Eine dicke Staubwolke löst sich langsam in der Sommerluft auf: Ein paar junge Menschen haben soeben mit einem Kompressor Beton zersprengt. Es ist Samstagnachmittag im Athener Stadtteil Exarchia an der Kreuzung Navarinou / Spirou Trikoupi Straße, in einem vor einer Einwohnerinitiative selbst verwalteten Park.

Noch vor kurzem diente er als Parkplatz, bis sich die Einwohner entschlossen, die freie Fläche in dem dichtbevölkerten Stadtteil als Grünfläche zu nutzen. Ein paar Meter entfernt befindet sich die Kreuzung, an der im vergangenen Dezember der 15-jährige Schüler Alexandros Grigoropoulos von einem Polizisten niedergeschossen wurde.

Wenige Minuten nach dem Tod von Alexandros stürmte von Exarchia aus eine Gruppe Jugendlicher und Autonomer in die Straßen von Athen und produzierte mit ihrer Wut die heftigsten Unruhen, die Griechenland seit der Rückkehr der Demokratie im Jahr 1974 erlebt hat. Die Ausschreitungen zwischen wütenden Jugendlichen und Polizisten in den Straßen von Athen und anderen griechischen Großstädten brachten das Land an den Rand des Ausnahmezustands. „Der Tod des Schülers war nur ein Anlass“, sagt die Psychologieprofessorin Fotini Tsalikoglou. „Dahinter verbirgt sich eine seit langem verborgene Verzweiflung. Viele junge Menschen leben mit der unerträglichen Gewissheit, dass es keine Zukunft für sie gibt.“

Die entspannte Stimmung im neu errichteten Park erinnert kaum mehr an die Ausschreitungen vom Dezember. Iro Stratigaki, 28-jährige Kulturwissenschaftlerin, die gerade auf der Suche nach einer festen Arbeitsstelle ist, schwärmt von Exarchia: „Diese Gegend ist wie eine große Umarmung, in die jeder reinpasst – von den Intellektuellen, die hier wohnen, bis hin zu den Drogensüchtigen, die auf dem zentralen Platz von Exarchia herumhängen.“ Iro hat fast ein Jahr lang in diesem Stadtteil gewohnt. Danach ist sie in ihr Elternhaus gezogen – wie viele ihrer Altersgenossen.

Das „Hotel Mama“ stellt für viele Jugendliche in Griechenland den einzigen Zufluchtsort dar, wenn ein festes Einkommen fehlt. Laut Angaben von Eurostat aus dem Jahre 2008 wohnen fast 68 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen zwischen 25 und 29 Jahren noch im Elternhaus. Der europäische Durchschnitt liegt bei 42 Prozent für die Männer und 28 Prozent für die Frauen. Dabei ist die Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen eine der höchsten im EU-Durchschnitt.

„Die Familie ist das einzige, was die griechische Gesellschaft zusammenhält, wenn man mit sozialem Zusammenhalt die Möglichkeit der individuellen Existenz und des sozialen Zusammenlebens unter solchen Bedingungen, die den menschlichen Bedürfnissen entsprechen, meint“, betont die Psychologieprofessorin Tsalikoglou. Dies ist griechischen Jungendlichen heutzutage vielfach nicht gegeben. Es fehlen Ausbildungs- und Arbeitsplätze, es fehlt vielen die Perspektive für eine gute Zukunft in Athen. Da entladen sich Spannungen auch gewaltsam, wie im Dezember geschehen.

Trotz dieser Probleme wirkt der Stadtteil Exarchia wie ein Magnet auf viele griechische Jugendliche. Alexandros Grigoropoulos war der Sohn einer angesehen Juweliersfamilie und wohnte in einem wohlhabenden Athener Viertel. Er hielt sich jedoch oft mit seinen Freunden in Exarchia auf, bevor ihn am 6. Dezember vergangenen Jahres die Kugel eines Polizisten traf.

Seit der brutalen Niederschlagung des Studentenaufstands im historischen Polytechnikum durch die Obristenjunta im Jahr 1973 hat dieser Stadtteil eine große Symbolik erhalten. Der kämpferische Charakter dieser Athener Gegend, die in der 70er Jahren als ein gutbürgerliches vornehmes Viertel galt, wurde schon seit der deutschen Besatzungszeit geprägt, als sich dort Widerstandsgruppen formierten.

In den Achtzigern hat sich in Exarchia eine linksalternative Szene etabliert, die Gegend erhielt eine fast mythische Dimension. Zahlreiche linke Initiativen, Verlage und Buchhandlungen haben sich dort niedergelassen, was viele Intellektuelle und Studenten anzieht. Dort befindet sich außer dem historischen Gebäude des Polytechnikums das Bildungsministerium sowie zahlreiche Theater.

Häufig laden Künstler aus der alternativen Szene zu Aufführungen und Lesungen ein, und es bummeln diejenigen herum, die der Schickeria in anderen Athener Gegenden entfliehen möchten und eine nachbarschaftliche Atmosphäre suchen. Etliche Wände sind mit Graffiti und antikapitalistischen Parolen besprüht. In den Cafés und Restaurants zahlt man nur fast die Hälfte im Vergleich zu anderen Stadteilen. Die griechischen Medien raunen von einem „eigenen Staat“. In den schmalen Gassen dieses Szene-Viertels spielen Autonome und Polizisten schon seit über 20 Jahre ein hartes Katze-und-Maus-Spiel.

So auch diesen Samstagnachmittag, ein halbes Jahr nach den gewaltigen Ausschreitungen. Die Stimmung in dem kleinen Park wird unruhig, plötzlich ist plötzlich großer Lärm zu hören. „Polizisten haben wieder angegriffen“, schreit ein junger Mann. Ein starker Geruch von Tränengas breitet sich langsam aus. Einige der Anwesenden - unter ihnen ein paar Familien - verlassen den Park, eine andere Gruppe läuft wütend dorthin, wo die Ausschreitungen sind.

Eine Spezialeinheit der Polizei marschiert aus einer Parallelstraße fast gelangweilt herbei. Ein Helikopter patrouilliert durch die Luft. Eine Frau mittleren Alters steht in ihrer Hauskleidung auf dem Bürgersteig und beobachtet das Geschehen. „Dies ist das Erbe jeder griechischen Regierung. Sie wissen ganz genau, wer die Ausschreitungen entfacht, aber sie unternehmen nichts“, sagt sie.

Die Frau ist eine ukrainische Migrantin. Sie beschwert sich über die große Menge von Tränengas, die fast jede Woche vor ihrer Haustür versprüht wird. „Wenn es zu Ausschreitungen kommt, hänge ich Bettlaken an die Fensterscheiben, damit das Tränengas nicht in die Wohnung eindringt”, sagt sie aufgeregt. Die Einwohnerinitiative von Exarchia hat bis jetzt 49 Klagen gegen die Verwendung von Chemikalien in ihrer Nachbarschaft gesammelt und will sie bei der Staatsanwaltschaft einreichen.

Zugleich haben sich viele Einwohner an die Spannungen in ihrem Viertel angepasst. Eltern spazieren gelassen mit ihren Kindern an den von brennenden Mülltonnen gebildeten Barrikaden vorbei und werfen einen neugierigen Blick auf die vermummten Jugendlichen. Der teure Duft der schicken alten Damen, die gerade ihren Samstagspaziergang machen, vermischt sich mit dem Geruch des verbrannten Mülls.

Die Einwohner protestieren immer wieder gegen die Polizeieinsätze und klagen darüber, dass der Drogenhandel praktisch vor ihrer Tür stattfindetohne, dass die Polizei eingreift. Über 300 Polizisten sind täglich in Exarchia im Einsatz, schätzt Nikos Giannopoulos, Mitglied der NGO „Netzwerk für politische und soziale Rechte“. Trotzdem ist der zentrale Platz von Exarchia einer der bekanntesten Drogenumschlagplätze Griechenlands.

„Exarchia hat sich in eine „Müllkippe der Abfälle der Unterdrückung verwandelt, die ihrerseits die Einwohner des Viertels unterdrückt“ , so Nikos Vagenas, ein bekannter Dichter, Universitätsprofessor und Bewohner des Stadtteils. „Die Asozialen, die Autonomen, die Drogenabhängigen und jeglicher anderer ‚sozialer Abfall’ bevorzugen unsere Nachbarschaft, weil hier ihr Existenzrecht anerkannt wird“, stellt dagegen Manolis Velizanidis, Inhaber des in Exarchia ansässigen Verlags Indiktos fest.

In den letzten Jahren hat sich die Anzahl der Migranten, die sich dort niederließen, erhöht. „Obwohl immer wieder über die Gewalt in Exarchia berichtet wird, gibt es im Vergleich zu anderen Athener Stadtvierteln keine Spannungen mit den Migranten. Die Einwohner in Exarchia scheinen bis jetzt toleranter gegenüber Ausländern zu sein“, sagt Giorgos Kandylis, politischer Analyst des Nationalen Zentrums für Soziale Studien (EKKE).

Das übliche kleinbürgerliche Misstrauen gegenüber allem Fremden hat keinen Platz in diesem Mosaik aus unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen. „In Exarchia gab es Freiraum, aus dem sich kollektives Engagement entwickelte, das sich von der griechischen Realität unterscheidet“, so Kandylis. „Obwohl es in dieser Gegend einen hohen Anteil an Eigentumswohnungen gibt, engagieren sich die Leute und bleiben nicht auf ihre eigenen vier Wände beschränkt.“


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