Bulgarien

Wo „Zigeuner“ kein Schimpfwort ist

Ein sonniger Frühlingstag im Donaustädtchen Lom. Menschen flanieren in der Fußgängerzone, bleiben stehen und schwatzen, die Cafés sind gut gefüllt. Roma sitzen in den Cafés neben Bulgaren, arbeiten als Polizisten, in Behörden, im Krankenhaus. Veselka Asenova, eine junge Romni, lehnt mit Freundinnen hinter der Theke ihres Cafés „Elena“. „In Lom ist es egal, ob du Rom bist oder nicht“, sagt sie. „Zu uns kommen viele Bulgaren. Ich habe auch sehr viele Freunde, die keine Roma sind.“

Dass Roma so am gesellschaftlichen Leben teilnehmen wie in Lom, gehört in Bulgarien nicht zum Alltag. Die viel geforderte Integration der Minderheit existiert bislang oft nur auf dem Papier. Ausgrenzung, Armut, Arbeitslosigkeit, miserable Lebensbedingungen gehören für Roma häufig zur Lebensrealität. In Lom sind die Hälfte der Einwohner Roma. Und auch dort existierten die Probleme, mit denen Roma fast überall in Osteuropa zu kämpfen haben: mit Wohnvierteln ohne Kanalisation und fließendem Wasser, mit fehlender Gesundheitsversorgung, mit Kindern, die in Sonderschulen gehen.

„Es gab eine Roma-Parallelwelt“, blickt Penka Penkova zurück. Sie ist in der zweiten Amtszeit Bürgermeisterin von Lom. Unprätentiös empfängt die 41-Jährige in ihrem Büro, eigentlich ist sie lieber draußen bei den Menschen. Zwei mal wurde sie zur tolerantesten Person in Lom gewählt, 2005 war sie die Frau des Jahres in ihrer Region Montana. Seit März liegt eine weitere Urkunde vor ihr auf dem Tisch: Der 3. Preis vom Europarat ging an die Gemeinde Lom für gleiche Rechte und Behandlung von Roma. Auf sie ist Penka Penkova besonders stolz.

„Auch wir haben immer noch viele Probleme, aber wir fürchten uns nicht, sie zu benennen“, sagt sie. Seit über zwölf Jahren setzt sie sich für die Roma-Gemeinde ihrer Stadt ein. Erfolgreich seien sie nur, weil sie sehr eng mit den Roma-Vertretern zusammen arbeiten, betont sie. Aber wahrscheinlich liegt ein großer Anteil auch an der unerschütterlichen Tatkraft der zierlichen Frau. Als Mitte der 90er Jahre, während der schlimmen Wirtschaftskrise in Bulgarien, die Roma-Kinder plötzlich nicht mehr in die Schule kamen, ging Penka Penkova zusammen mit Leuten der „Roma Lom Stiftung“ in die Roma-Viertel, von Haus zu Haus. Sie sprachen mit den Eltern, um sie zu überzeugen, die Kinder wieder in die Schule zu schicken. „Nicht alle, aber viele haben wir zurück gewonnen. Es ist eben ein langer Prozess.“

Ein wichtiger Partner für Penka Penkova ist Nikolay Kirilov. Er hat vor 13 Jahren die NGO „Roma Lom Stiftung“ gegründet. Der kleine Mann im Business-Outfit sitzt im Büro seiner Organisation im alten Schwimmbad der Stadt. Das Gebäude wird der NGO von der Stadt kostenlos überlassen. Erst vor kurzem wurde es renoviert, die Wände sind noch kahl und weiß. Kirilov gehört zu einer neuen Roma-Elite: Universitätsabschluss einer Amerikanischen Universität, er spricht fließend Englisch, hat lange Auslandsaufenthalte hinter sich, er war der erste Rom-Abgeordnete im Gemeinderat. Sein Kontakt zu den Behörden ist mindestens genau so gut wie der zu seiner Gemeinde. Er besitzt großes Vertrauen aus beiden Welten: der Welt der Roma und der „Gadje“, der Nicht-Roma. Auch bei ihm hängen Auszeichnungen an der Wand: 2006 wurde er mit der Theodor-Heuss-Medaille für Engagement gegen soziale und kulturelle Ausgrenzung der Roma geehrt.

Nikolay Kirilov und Penka Penkova suchen den Ausgleich der Interessen. Nicht nur durch gegenseitige Forderungen, sondern durch konstruktive Kritik. Sie balancieren zwischen den verschiedenen Roma-Gruppen und den Bulgaren, dabei verschwimmen oftmals die Grenzen zwischen den Bedürftigen. Denn längst wird auch den sozial schwachen Bulgaren durch die Projekte geholfen. Mittlerweile beantragen die Behörden und die „Roma Lom Stiftung“ wie selbstverständlich gemeinsam Projektgelder bei EU-Fonds oder nationalen Programmen. Viele der Probleme konnten auf diese Weise in Angriff genommen werden. Es laufen Projekte in der Sozialfürsorge, im Wohnungsbereich. Priorität ist dabei die Bildung. „Durch meine Position im Gemeinderat habe ich gesehen, wie der Haushalt verteilt wird“, erklärt Nikolay Kirilov. „Und dass die Schule mit überwiegend Roma-Kindern zehn Mal weniger Geld bekommt als die Schule mit bulgarischen Kindern. Wie soll man da von gleicher Bildung sprechen?“

Die Rede ist von der „Hristo-Botev-Schule“ im Viertel Mladenovo. Vor Jahren gehörte sie noch zu den schlechtesten Schulen der Stadt. 90 Prozent der Schüler sind Roma. Der große Durchbruch kam mit einem Projekt, das die Schule vor fünf Jahren zusammen mit der „Roma Lom Stiftung“ beantragt hatte. Ein neuer Geist sei damals in die Schule eingezogen, erzählt die ambitionierte Direktorin Dessislava Alexandrova. Heute gehen fast alle Roma-Kinder in die Schule und machen ihren Abschluss. Lehrer unterrichten mit interaktiven Methoden, es gibt eine Schulbibliothek, Nachmittagsaktivitäten, einen Elternverein. „Wir wollen, dass die Schüler sich wohl fühlen in der Schule“, sagt die jugendlich wirkende Bulgarin. „Und wir haben engen Kontakt zu den Eltern und binden sie in die Schulaktivitäten ein“. Das schafft Nähe und Verständnis.

Heute stehen der Institution die gleichen Finanzmittel zur Verfügung wie allen anderen Schulen in Lom. Die Klassenzimmer sind bunt gestrichen, Zeichnungen hängen an den Wänden, es ist freundlich und sauber. Eigentlich sind Ferien, trotzdem bekommt Juliana heute Nachhilfe in Mathe. Lehrerin Bojanka Zvetanova bemerkt bereits Julianas Fortschritte. „Juliana lebt im Moment bei ihren Großeltern. Ihre Eltern arbeiten in Deutschland. Wer soll ihr da zu Hause helfen?“ Doch ein großer Erfolg sei, dass die Oma das Kind heute zum Lernen herschicke. Das Bildungsniveau hat sich mittlerweile an die üblichen Anforderungen angeglichen. „Unsere Schüler müssen schließlich konkurrenzfähig sein“, sagt Desislava Alexandrova.

Es ist später Nachmittag. Nikolay Kirilov kommt aus einer wichtigen Sitzung des Gemeinderats. 20 000 Euro hat die Gemeinde Lom nun als festen Posten in ihrem Haushalt für die Integration der Roma verankert. Ein Novum in Bulgarien. Kirilov strahlt und lehnt sich bei Kaffee im Stuhl zurück. „Meistens setzen sie einen Rom auf irgendeinen Posten und sagen: Er ist verantwortlich für Roma-Angelegenheiten. Er hat aber weder Einfluss noch Gelder. Wenn keine Finanzmittel für uns vorgesehen sind, kann man die Probleme nicht lösen.“  Geschliffen kommen die Worte aus Kirilovs Mund. Die Romabewegung müsse die lokalen Behörden mehr unter Druck setzen, um Roma endlich in ihre Agenda aufzunehmen. „Es gibt schon genug Strategien und Dokumente, ein wahre Inflation an Papier. Aber auf lokaler Ebene setzen das nur sehr wenige Gemeinden um.“ 

Viele Forderungen von Nikolay Kirilov sind in Lom bereits Realität. In den meisten Schulen ist der Anteil von Roma und Nicht-Roma weitaus ausgeglichener als in „Hristo Botev“. Es gibt Roma, die studieren, die durch ihre Ausbildung gute Positionen in der Gemeinde innehaben. Die Roma-Viertel haben nicht den Charakter von Ghettos, es gibt gute nachbarschaftliche Verhältnisse. Die Voraussetzungen für eine Integration sind günstig. Längst haben die meisten „Gadje“ aus Lom gelernt, dass „Zigeuner“ nicht nur stehlen und schmutzig sind.

Dass Lom oft als eine Ausnahme angesehen wird, wollen aber weder Nikolay Kirilov noch Penka Penkova gelten lassen. In ihren Ohren klingt das zu sehr nach einer Ausrede. Es fehle auf Seiten der Behörden in der Tat oft das nötige Verständnis für die Roma und die Kompetenz, Projektgelder abzurufen. Genauso wie es oft an starken Roma-NGOs mangele, räumen beide ein. „Wir müssen einfach viel Zeit, Energie und Geld investieren“, konstatiert Nilokay Kirilov. „Nur so können wir zusammen leben.“


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