Albtraum ohne Ende
Am 11. Juli, dem 14. Jahrestag des Massakers von Srebrenica, wird Zumra Sehomerovic die sterblichen Überreste ihres Mannes beisetzen. Erst 13 Jahre nach Kriegsende erhielt sie eine Nachricht über dessen Verbleib. Forensiker hatten ein Bein und den Brustkorb ihres Mannes per DNA-Analyse identifiziert. Kurze Zeit später wurde an einem anderen Ort sein Schädel gefunden.
Jedes Jahr am 11. Juli werden auf dem Gedenkfriedhof in Potocari weitere Opfer des Massakers beerdigt. Über 3200 sind es bislang. An diesem Samstag sollen etwa 500 weitere ihre letzte Ruhe finden. Für die Hinterbliebenen nimmt der Albtraum damit aber kein Ende. Die Identifizierung der Opfer ist äußerst schwierig. Es werden immer wieder neue Massengräber entdeckt. Denn die Männer des serbischen Generals Ratko Mladic haben die Überreste der 8.000 Opfer des Massakers von Srebrenica auf verschiedene Gebiete verteilt, um die Tat zu verschleiern.
Vor Beginn des Bosnienkrieges 1992 hat Srebrenica etwa 8000 Bewohner. Im Laufe des Konflikts vervielfacht sich diese Zahl: Zehntausende Menschen drängen aus dem Umland nach Srebrenica. Es sind vor allem bosnische Muslime, die Schutz vor den Soldaten des Generals Ratko Mladic suchen. Der Befehlshaber der bosnischen Serben zieht den Belagerungsring um die muslimische Enklave immer enger. In Srebrenica wähnen sich die Flüchtlinge in Sicherheit. Die UN hat das Gebiet zur Schutzzone erklärt. Niederländische und kanadische Truppen sollen dafür bürgen. Doch der politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, und sein Militärchef Mladic lassen sich nicht aufhalten. Am 11. Juli 1995 nehmen die bosnisch-serbischen Einheiten die Stadt ein und beginnen den schlimmsten Massenmord auf europäischen Boden seit 1945.
Mehrere tausend Flüchtlinge versuchen, durch die Wälder in Richtung muslimisch kontrolliertes Gebiet zu entkommen. Andere Flüchtlinge sehen den Stützpunkt der niederländischen Blauhelme als letzte Hoffnung. Deren Basis liegt im wenige Kilometer entfernten Dorf Potocari. Am Abend des 11. Juli drängen sich etwa 25.000 Menschen auf dem Gelände der ehemaligen Batteriefabrik, die meisten von ihnen Frauen, Kinder und Alte. Nahrung und Wasser sind knapp. Es herrscht Chaos. „In einem Moment brachte eine Frau ihr Kind zur Welt, im nächsten lag ein Greis im Sterben“, berichtet die Überlebende Zumra Sehomerovic, die damals mit ihrem Mann nach Potocari floh.
Viele der Flüchtlinge übernachten im Freien und schon bald rücken auch die Einheiten von Mladic nach Potocari vor. Am 12. und 13. Juli beginnen die bosnisch-serbischen Truppen Frauen und Männer zu trennen. Sie geben vor, nach Kriegsverbrechern zu suchen. Die etwa 350 UN-Blauhelme sind überfordert. Ihnen fehlt das Mandat einzugreifen. So sehen die Niederländer tatenlos zu, wie Mladic seine gezielte ethnische Säuberung fortsetzt: Frauen und Kinder werden auf Lastwagen und Bussen abtransportiert und bis kurz vor muslimisch kontrolliertes Gebiet gebracht.
Die zurückgebliebenen Männer, die meisten im wehrfähigen Alter, werden von Mladics Männern an verschiedenen Orten um Srebrenica hingerichtet und verscharrt. Um den Mord an den etwa 8000 Menschen zu verschleiern, heben die Täter einige Gräber später wieder aus und verteilen die menschlichen Überreste auf andere Gebiete. Auch nach Kriegsende findet das Umbetten der Leichen noch statt.
Ein Bundeswehrsoldat legt auf dem Gedenkfriedhof Potocari einen Kranz nieder. / Eran Yardeni, n-ost
2007 stufte der Internationale Gerichtshof in Den Haag das Massaker von Srebrenica als Völkermord ein, nachdem das UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien bereits 2001 zu dem gleichen Schluss gekommen war. Einige der Täter sind in Den Haag verurteilt worden. Das Verfahren gegen den erst 2008 gefassten Ex-Präsidenten der bosnischen Serben, Karadzic, läuft noch. Doch einer der mutmaßlichen Hauptverantwortlichen für das Massaker lebt weiter auf freiem Fuß: Ratko Mladic. Er wird in Serbien vermutet. Das bosnische Fernsehen sendete zuletzt Aufnahmen, die ihn beim Tanz auf einer Familienfeier zeigen.
Doch die Schuldigen werden nicht nur in den Reihen der bosnischen Serben gesucht: Vor allem der Führung der niederländischen UN-Schutztruppe wird immer wieder Tatenlosigkeit vorgeworfen. Sogar von Beihilfe zum Kriegsverbrechen ist die Rede. 2007 klagten Opfer-Familien gegen den niederländischen Staat und die UN. Im vergangenen Jahr entschied ein niederländisches Gericht jedoch, dass die Vereinten Nationen juristische Immunität genießen. Auch die Klage gegen den niederländischen Staat wurde abgelehnt. Die Hinterbliebenden haben Berufung eingelegt.