Ungarn

Überschätzte Grenzöffnung / Zum 27. Juni 1989

Die Bilder von der Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich am 27. Juni 1989 gehen in die Geschichte ein. Doch die wahre Bedeutung dieses Ereignisses ist umstritten.
(n-ost) – Am 27. Juni 1989 zerschnitten die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, den Grenzzaun zwischen ihren beiden Staaten. Die Aufnahmen der lächelnden Politiker mit den Bolzenschneidern sind zu Symbolbildern für die Grenzöffnung in Ungarn und den Fall des Eisernen Vorhangs geworden. Doch die Bedeutung dieses Junitages ist umstritten. Ungarn hatte mit dem Abbau der Grenzanlagen schon viel früher begonnen. Es waren andere Ereignisse, die den Weg für die DDR-Flüchtlinge in den Westen frei machten und im Endeffekt zur Wiedervereinigung Deutschlands führten.Ungarn im Frühjahr 1989. Es ist die Zeit der Perestroika. Der mit Michail Gorbatschow in der Sowjetunion einsetzende Wandel hat Freiräume geschaffen. In Ungarn ist der Reformprozess schon weit fortgeschritten. So beschließt die Führung in Budapest bereits im Februar 1989, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen. Der Fortbestand des Signalsystems ist politisch nicht mehr zu rechtfertigen. Zudem verursacht es hohe Kosten. Die DDR-Führung nimmt die Entscheidung gelassen. „Merkwürdigerweise reagierte Ostberlin überhaupt nicht darauf“, sagt der Historiker Andreas Oplatka, dessen Buch „Der erste Riss in der Mauer“ über die Grenzöffnung in diesem Frühjahr erschienen ist. „Die DDR-Führung verkannte die Lage.“Am 2. Mai, also knapp zwei Monate, bevor die Aufnahmen von Horn und Mock beim Durchtrennen des Drahts entstanden, beginnen ungarische Soldaten in Hegyeshalom, dem wichtigsten Grenzübergang in Richtung Wien, den Drahtzaun und das Meldesystem abzureißen. Das geschieht öffentlich: Das Westdeutsche Fernsehen ist dabei und die Bilder erreichen viele DDR-Bürger noch am gleichen Abend. Das sorgt dann doch für Unruhe in Ostberlin und der DDR-Verteidigungsminister Heinz Kessler wird nach Budapest geschickt, um die ungarischen Genossen zur Rede zu stellen. Er erhält die beschwichtigende Auskunft, dass die Grenze nach Österreich weiterhin bewacht bleibe.Als Österreichs Außenminister Mock seinen ungarischen Amtskollegen zu einem gemeinsamen Foto-Termin an der Grenze anregt, muss ein längerer, intakter Zaunabschnitt erst gefunden werden. Schließlich einigt man sich auf eine Stelle nahe der ungarischen Stadt Sopron und die Politiker gehen vor versammelter Presse mit den Bolzenschneidern zu Werke. „Die Behauptung, die beiden Politiker hätten den Weg für die DDR-Flüchtlinge frei gemacht, ist zweifach falsch“, sagt der Historiker Oplatka. „Ende Juni war der Eiserne Vorhang in Ungarn kaum noch existent. Zudem blieb die Grenze streng bewacht.“Nicht leugnen lässt sich jedoch die Symbolkraft der Bilder: Diesmal sind es keine Soldaten, die den Zaun durchschneiden, sondern Staatsmänner. Das Echo auf die Bilder ist gewaltig: Im Sommer 1989 rollt eine ungewöhnlich große Welle mit DDR-Touristen in das Land. Die Ostdeutschen übervölkern die Campingplätze. Notlager werden errichtet. Auch in der westdeutschen Botschaft in Budapest suchen einige Zuflucht. Trotz der andauernden Bewachung der Grenze gelingt mehreren Hundert die Flucht in den Westen. Der interne Befehl an die ungarischen Grenzwächter lautet: Waffengebrauch nur im Selbstverteidigungsfall.Dann kommt der 19. August. Ungarische Oppositionelle wollen im Grenzgebiet zu Österreich ein Fest des Friedens feiern. Ungarn und Österreicher sind gemeinsam zu einem „Paneuropäischen Picknick“ eingeladen. Damit die Österreicher an dem Picknick teilnehmen können, soll zeitweise ein altes Grenztor geöffnet werden. Rund 1000 DDR-Bürger nutzen die Gunst der Stunde zur Flucht. Es ist die größte Massenflucht von DDR-Bürgern seit dem Mauerbau.Dass alles auch hätte anders kommen können, zeigt sich zwei Tage später. Am 21. August erschießt ein junger Grenzsoldat einen 36-jährigen Architekten aus Weimar beim Fluchtversuch. Die Ereignisse zwingen Ungarn zu schnellen Entscheidungen. Drei Wochen später, in den frühen Morgenstunden des 11. September, öffnet das Land seine Grenzen und lässt alle DDR-Flüchtlinge in den Westen reisen.Jetzt tut sich wirklich ein gewaltiges Loch im Eisernen Vorhang auf. Allein in den ersten beiden Tagen nach der offiziellen Grenzöffnung reisen etwa 14 000 Ostdeutsche aus. Ungarn war ein Fass mit Überdruck. Knapp drei Wochen später, am 30. September, hält Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft seine historische Rede. Gut einen Monat später fällt in Berlin die Mauer.Nicholas Brautlecht
ENDE
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