Aufwind durch Zentralasien-Flüge
Bis zum Jahr 1992 galt der Flughafen Riga mit fast 1,8 Millionen Fluggästen pro Jahr als Drehscheibe für den innersowjetischen Flugverkehr. Damals gab es nur eine einzige Verbindung in den Westen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich die Ausrichtung des Flugverkehrsnetzes fast komplett. Für die baltischen Staaten war der Geldsegen aus Europa interessanter, das schwere sowjetische Erbe hat die früheren Kontakte zum Osten ruhen lassen.
Die Integration in die westliche Hemisphäre, der Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO haben Zentralasien und Russland in weite Ferne rücken lassen – obwohl sie von Riga oft in kleinerer Entfernung liegen als zum Beispiel Spanien oder Portugal. In Zeiten des Wirtschaftsbooms ist diese Rechnung auch aufgegangen. Doch den exklusiven Luxus, sich die Rosinen aus den möglichen Flugzielen herauszupicken, kann sich heute kaum noch eine Fluggesellschaft leisten. Denn die Wirtschaftskrise hat die Tourismus- und Luftfahrtbranche der baltischen Staaten voll im Griff.
Die größte baltische Fluggesellschaft airBaltic rechnet in diesem Jahr mit einem Fluggastschwund von bis zu 70 Prozent für den lettischen Markt, in Vilnius hat sich das Passagieraufkommen bereits halbiert, und für den Standort Tallinn rechnet man mit 40 Prozent weniger Fluggästen. Die britische Fluggesellschaft EasyJet und die niederländische KLM haben ihre Flüge von und nach Riga eingestellt. Die litauische Flylal steht unter Gläubigerschutz. Nur die aus Estland stammende Estonia Air hat ihren Marktanteil in Tallinn behalten können, obwohl sie im vierten Quartal des Vorjahres ein Viertel weniger Fluggäste beförderte als im gleichen Vorjahreszeitraum.
Besonders hart trifft es die litauische Hauptstadt Vilnius, die diesjährige europäische Kulturhauptstadt. Sie verbucht derzeit nur noch 27 Starts pro Tag, lediglich neun europäische Städte werden von dort aus noch angeflogen. Was sich hinter diesen Zahlen verbirgt, sind nicht nur die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, sondern auch das Ergebnis eines bitteren Konkurrenzkampfes zwischen den Fluggesellschaften.
Mit aggressiven Marketingmethoden versuchten die Fluggesellschaften lange, ihre Position auf dem nordischen und baltischen Markt zu festigen. Nachdem im Oktober des vergangen Jahres die SAS ihren airBaltic-Anteil an den Geschäftsführer der airBaltic Bertolt Flick verkaufte, ist der Himmel über den baltischen und skandinavischen Ländern aufgerissen. AirBaltic, aber auch die irische Fluggesellschaft Ryan Air, sind seitdem tief in den angestammten Luftraum der skandinavischen SAS eingedrungen und versuchen sich gegenseitig Marktsegmente abzujagen.
„Obwohl sich herkömmliche Gesellschaften wie Lufthansa und SAS nicht als Billigflieger präsentieren und viele der Hauptstrecken fest in ihrer Hand haben, entspricht ihre Preisstruktur de facto längst der der Low Cost Airlines wie airBaltic“, sagt Konzernchef Flick. „Sie konkurrieren heftig auf den Nebenstrecken und bei Direktflügen, und das nicht nur am nordischen Himmel“. Angesichts dieser Entwicklung hat airBaltic seine Konzernstrategie geändert: weg vom herkömmlichen Direktflüge-Modell zu einem Transitmodell.
Die Einnahmen aus dem Transitverkehr von und nach Russland, in die nordischen und europäischen Länder und in die zentralasiatischen GUS-Staaten gleichen heute die Verluste der airBaltic im baltischen Markt aus. Man sei gezwungen gewesen, auf den zentralasiatischen und russischen Markt zurückzukehren, so Flick. Dort habe airBaltic einen soliden und profitablen Marktanteil erobert, fügt er hinzu.
Zwei Jahrzehnte nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit ist man sich im Baltikum offensichtlich der Rentabilität des Ostgeschäftes und der gegenseitigen wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen wieder bewusst geworden, die in den Jahrzehnten der Pflichtbrüderschaft während der Sowjetzeit entstanden oder gar noch in der Nachwendezeit ihren Ursprung haben.
Die Fluggesellschaft folgt damit auch den baltischen Regierungen, die in jüngster Zeit verstärkt mit den zentralasiatischen GUS-Staaten kooperieren und alte Wirtschaftsbeziehungen wiederbeleben. Der russische Markt ist dagegen wegen des Fehlens eines gültigen Luftverkehrsabkommens, mit einigen Ausnahmen wie Moskau, Sankt Petersburg und Kaliningrad, nach wie vor kaum zugänglich. Derzeit sucht airBaltic nach geeigneten Lösungen, den Rigaer Flughafen den künftigen Herausforderungen anzupassen. Gerade in den Spitzenzeiten sind die Kapazitäten des Flughafens nicht ausreichend. Auf Dauer würde dies zum Standortnachteil und zum Wirtschaftsrisiko.
Deshalb soll der Flughafen ausgebaut werden. Ein türkisch-lettisches Konsortium hat bereits den Zuschlag für den Ausbau des Flughafens erhalten. Das Konsortium, bestehend aus TAV Airports, das unter anderem für den Bau und den Betrieb der Flughäfen von Istanbul und Dubai verantwortlich ist, und ihrem lettischen Partner Skonto Buve, planen den Bau einer „Minivariante“ des Dubaier Verkehrsflughafens in Riga. Nach dem Willen des Konsortiums soll der internationale Flughafen Riga nach Vorbild des südlichen Luftverkehrskreuzes Istanbul mittel- bis langfristig zur nordischen Drehscheibe des Luftverkehrs ausgebaut werden.