Der Zauber des Roten Lippenstiftes
Plötzlich kommt ein Huhn aus einem Hut zum Vorschein. Aus dem Nichts fliegt den Zuschauern eine Taube entgegen. Aus wuchernden Flammen entstehen karamellisierte Süßigkeiten. Eigentlich sind die Bewohner des Rigaer Kinderheimes noch zu jung, um Zaubertricks zu verstehen. Doch das junge Publikum ist verzaubert und entzückt, weit weg von den drückenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die draußen das Leben in Lettland lähmen. Es kommt nur selten vor, dass die Kinder so einen Zauber in ihrem Alltag erleben.
Die beiden Zauberkünstler Genadijs und Elena genießen die Entzückung ihres Publikums. Nach der Aufführung, als Zugabe, dürfen die Tiere gestreichelt werden. Die sind die Aufregung der Kinder schon längst gewöhnt. Den kleinen Zuschauern bereitet diese Nachspielzeit noch einmal große Freude. Doch Genadijs und Elena wollen die Kinder nicht nur erfreuen, sie hoffen, durch ihre Auftritte in Kinderheimen das öffentliche Interesse auf der Situation der Kinderheime zu lenken.Das lettische Zauberkünstlerpaar wird bis Ende August alle 59 Waisenhäuser Lettlands besucht haben. Auf eine finanzielle Unterstützung des Staates oder aus der Privatwirtschaft können sie dabei nicht rechnen, die Tour machen sie aus Überzeugung.
Elena Palchevsky und ihr kleines Publikum beim Besuch eines Rigaer Kinderheimes. Foto: Thorsten Pohlmann
Genadijs zaubert gern auch hinter der Bühne weiter. Mitten im Erzählen nimmt er einen roten Lippenstift aus der Tasche und malt sich einen Fleck auf seine Handfläche. Sein Gegenüber soll die Handflächen zeigen, sie sind sauber. Während Genadijs Proband die Hände zu Fäusten schließt und die linke Hand nach vorn gestreckt hält, reibt der Magier sich die Hände und lässt mit ein bisschen Spucke seinen Fleck verschwinden. Ganz fantastisch treibt er dabei den Hokuspokus, ohne seinen Probanden ein einziges Mal zu berühren. Dann zeigt dieser seine rechte Hand, die die ganze Zeit auf seinem Rücken ruhte. Nein, es befindet sich nichts in der Hand. „Und in der anderen“, fragt Genadijs, „schau doch mal nach?“Ein magischer roter Punkt befindet sich auf der linken Handfläche.
Mit fünf, erzählt Genadijs, hatte er sein Debüt als Zauberer. Schon früh begeisterte er sich für die magische Welt der Zauberkünste. Später, nach der Grundschule, fuhr er nach Moskau, um dort sein „Handwerk“ zu verfeinern. Er verbrachte viele Stunden in Kaffeehäusern und Lokalen, um die Arbeit der „Karmanniki“ – der Taschendiebe der Moskauer Unterwelt – zu beobachten.
Die Geschichten, die der Magier Genadijs Palchevski und seine Frau Elena aus dieser Zeit erzählen, sind ebenso spannend wie ihre Tricks. Die Zauberkünstler genießen jede Vorstellung, obwohl die Zauberei für sie reines Handwerk ist. „Das, was wir machen, ist eine rein wissenschaftliche Handlung, so trocken wie Mathematik, jedenfalls, wenn man die verwendeten Formeln kennt“, erzählt Genadijs. Dadurch werde der unkundige Beobachter in seiner Wahrnehmung irregeführt, sein Verstand auf falsche Spuren geleitet, seine Sinne überlistet.
Die Arbeit mit Kindern in Waisenheimen, sagen die beiden Künstler, sei von ungeheurer Wichtigkeit. Für Kinder wirke der Zauber auf faszinierende Art und Weise, er bringe sie aus dem oft düsteren, traurigen Alltag in eine Traumwelt, in der sich ihr inneres Wesen von den tagtäglichen Zwängen lösen und frei entfalten könne. In eine Welt, die sie ansonsten nur aus Märchen kennen. Gerade weil viele der Kinder in Waisenheimen traumatisiert sind, unter psychischen und physischen Behinderungen leiden und nur selten Zugang zu einer geeigneten Therapie haben, wirke dieser Zauber ähnlich wie eine Therapie, erklärt Elena.
Bei einem Trick zaubert der Künstler bei seinem Publikum Geldmünzen hervor und sammelt sie in einem Champagner-Kühler. Foto: Thorsten Pohlmann
Ihren Schützlingen eine Therapie zu finanzieren, davon sind die meisten Heimdirektoren weit entfernt. Die Direktorin des Rigaer Kinderheimes, in dem die Palchevskis gerade Station gemacht haben, kann den Lebensunterhalts der ihr anvertrauten 60 Kinder kaum sichern. Umgerechnet 1,70 Euro stehen ihr pro Kind und Tag für Mahlzeiten und Getränke zur Verfügung. Das reicht kaum aus. Es gibt keine Magie, mit der sie den Widerspruch zwischen den Anforderungen des Alltags und den finanziellen Ressourcen lösen könnte. Ohne Spenden könnte die Direktorin, die aus Angst um ihren Arbeitsplatz ihren Namen nicht nennen möchte, die ihr anvertrauten Säuglinge und Kleinkinder gar nicht durchbringen.
Die Situation der Kinderheime in den entfernteren Regionen ist noch schlimmer als in der Hauptstadt Riga. Unweit von Dunaburg, der zweitgrößten Stadt Lettlands, befindet sich das Kinderheim Kalkuni. Dort leben fast 130 Kinder. Nahezu jedes der dort untergebrachten Kinder hat eine eigene, oft grauenvolle Geschichte zu erzählen. Fast die Hälfte der Kinder hat keine Eltern mehr. Der Staat hat sie vor weiterer Verwahrlosung, Gewalt und Missbrauch retten können, aber für eine ausreichende Therapie der traumatisierten Kinder fehlen die notwendigen Ressourcen.
Die Mittel, mit denen sich das Kinderheim Kalkuni finanziert, sagt Direktorin Lilija Gorbunova, reichten gerade mal, um den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten. Doch die abgenutzten Gebäude aus der Sowjetzeit zu sanieren – dazu fehle das Geld. Ganz zu schweigen von einer therapeutischen Betruung der Kinder. Als der Fahrstuhl wegen Kurzschlüsse in den Stromleitungen durch Regenwasser außer Betrieb war, haben die Mitarbeiter des Kinderheims die zum Teil schwer behinderten Kinder und ihre Gehhilfen bis zu vier Stockwerke hoch und wieder hinunter tragen müssen. Nur Dank einer Spende aus dem Ausland hat man den Fahrstuhl im vergangen Jahr reparieren können. Solche Spenden könnten in Zukunft wegen der weltweiten Wirtschaftskrise aber ausbleiben.
„Es liegen noch viele Kinderheimbesuche vor uns“, sagt Elena, darunter das Kinderheim von Kalkuni. Damit sie das aus eigener Tasche finanzierte Projekt realisieren können, müssen sie Geld verdienen. Magie helfe da nicht, wohl aber harte Arbeit. Weil in Lettland mit Kultur kaum Brot zu verdienen ist, fahren die Palchevskis oft ins Ausland und treten dort auf. „In Asien“, sagt Elena und lächelt, „da sind besonders die Erwachsenen über die magischen Tricks der „Karmanniki“ erfreut. Sie zahlen gerne Eintritt, um sich von den Zauberern dieser Welt hinters Licht führen zu lassen.“ Die Magie, sagt Elena, wirke wie ein Medikament. „Es öffnet uns Augen für eine andere Seite dieser wunderbaren Welt, einer Welt, die wir allzu oft aus dem Blickfeld verloren haben.“