Tschetscheniens Sonderstatus aufgehoben
Anti-Terror-Regime in Tschetschenien beendet / 20.000 russische Soldaten sollen abgezogen werden.
(n-ost) – In der Nacht zu Donnerstag wurde auf Anordnung von Kreml-Chef Dmitri Medwedew das 1999 verhängte Anti-Terror-Sonderregime für Tschetschenien aufgehoben. Das Sonderregime machte Durchsuchungen, Straßenkontrollen durch Soldaten und nächtliche Ausgangssperren möglich. Theoretisch müssten ausländische Journalisten jetzt wieder ungehindert in Tschetschenien arbeiten können. Das Sonderregime war seit Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges in Kraft, als russische Truppen mit der Rückeroberung der Kaukasusrepublik begannen. Von der Aufhebung des Sonderregimes verspricht sich Moskau offenbar bessere Bedingungen für den wirtschaftlichen Aufbau in der mit 1,2 Millionen Einwohnern nach Dagestan bevölkerungsreichsten russischen Teilrepublik im Nordkaukasus. Der Kreml setzt auf die wirtschaftlichen Selbstheilungskräfte Tschetscheniens und verspricht für den Flughafen Grosny einen internationalen Status mit eigener Zoll-Kontrolle. Präsident Ramsan Kadyrow erhofft sich dadurch den Zufluss ausländischen Kapitals „von unseren muslimischen Brüdern, aus Europa und Asien“. In den bewaffneten Separatisten, die sich noch immer in den Bergen verstecken, sieht der russische Geheimdienst offenbar keine akute Gefahr mehr. Durch die Wiederaufbauhilfen aus Moskau finden sie immer weniger Anhänger. Die Tschetschenen bekamen in den vergangenen Jahren viel Geld für den Wiederaufbau ihrer im Krieg zerstörten Häuser, mussten allerdings einen Teil der Entschädigung an korrupte Beamte abtreten. Das russische Fernsehen berichtet, dass selbst in entlegene Bergdörfer Straßen gebaut werden und kleine Orte erstmals einen Gasanschluss bekommen.Nachdem die tschetschenische Hauptstadt Grosny in zwei Kriegen fast völlig dem Erdboden gleich gemacht wurde, begann 2003 der Wiederaufbau vor allem von Prestige-Objekten. Das Stadtzentrum wurde wieder hergerichtet, der zerstörte Flughafen wieder eröffnet. Im vergangenen Jahr wurde in Grosny eine neue Moschee mit vier Mineratten eingeweiht, angeblich das größte islamische Gotteshaus in Europa. Unweit davon steht eine kleine wieder aufgebaute russisch-orthodoxe Kirche. Sie hat vor allem symbolische Bedeutung, denn die wenigen Russen, die noch in Tschetschenien leben, sind vorwiegend alte Meschen, die keine Möglichkeit hatten, ins russische Kernland überzusiedeln. In der Stadt Argun wird seit Ende letzten Jahres ein altes Lada-PKW-Modell der 7er Baureihe endmontiert. Für 2010 ist eine Jahresproduktion von 30.000 Autos geplant.Im März 2007 wurde der erst 32-jährige Ramsan Kadyrow zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Ramsan Kadyrow hatte im ersten Tschetschenien-Krieg 1994 bis 1996 gegen die russischen Truppen gekämpft, war dann aber 1999 mit seinem Vater Ahmed zu den föderalen russischen Truppen. Sein Vater war 2000 bis zu einem tödlichen Anschlag 2004 der von Putin eingesetzte Verwalter Tschetscheniens. Zwar bekundeten Ahmed und Ramsan Kadyrow stets ihre Treue zu Putin und zu Russland, doch es mehren sich Hinweise darauf, dass Kadyrow jr. nach immer mehr Macht strebt und möglichst viel Selbstbestimmung für Tschetschenien innerhalb der Russischen Föderation erreichen will. Für Moskau aber ist Ramsan Kadyrow das kleinere Übel, selbst wenn sich der tschetschenische Präsident öffentlich für die Viel-Weiberei und die Vormundschaft der Männer über die Frauen ausspricht und damit mit den russischen Gesetzen in Konflikt gerät. Menschenrechtler beklagen, dass in Tschetschenien nach wie Personen spurlos verschwinden und der Kampf gegen die Separatisten mit ungesetzlichen Mitteln weitergeführt werde. Die Menschenrechtsorganisation Memorial berichtet, dass immer wieder Häuser von Angehörigen der Separatisten angesteckt oder ihre Familien bedroht werden. Mehrere hochrangige tschetschenische Offiziere und ehemalige Leibwächter, die mit Ramsan Kadyrow in den letzten Jahren in Konflikt gerieten, wurden in Moskau, Dubai und in Wien auf offener Straße erschossen. Die Täter wurden bisher nicht ermittelt. Für Moskau ist Kadyrow nicht völlig berechenbar, aber der Kreml hat offenbar keine Alternative.
Ulrich Heyden
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