Griechenland

Das Tabu der Wehrmachtskinder / Interview mit Kerstin Muth

Frau Muth, wie schwierig war es, in Griechenland Wehrmachtskinder ausfindig zu machen?

Während über die Kinder; die in den so genannten Lebensborn-Heimen [Zuchtheime, die Heinrich Himmler in West- und Nordeuropa geschaffen hatte; Anm. d. Red.] gezeugt worden sind, genau Buch geführt wurde, gibt es in Griechenland keine Aufzeichnungen über die Soldatenkinder. Die Beziehungen zu Frauen in Griechenland waren untersagt, da die Griechinnen in der nationalsozialistischen Rassenideologie als „nicht-umvolkbar“ galten. Auch viele griechische Popen weigerten sich, die „Deutschenbastarde“ in den Kirchenbüchern zu registrieren. Oder sie machten unvollständige Angaben, was meine Recherche zusätzlich erschwert hat. In Griechenland selbst weiß man wenig über die Lebensgeschichten von Wehrmachtskindern. Die meisten dieser Kinder schweigen heute noch immer über ihre Herkunft.

In Griechenland ist dieses Thema also noch immer ein Tabu. Wie haben Sie die sechs Fälle gefunden, die Sie in ihrem Buch darstellen?

Das erste Wehrmachtskind habe ich über die Evangelische Gemeinde in Thessaloniki gefunden. Zwei weitere haben sich über Zeitungsartikel gemeldet und drei andere habe ich über eigene Recherchen gefunden. Generell kann man sagen,  dass es wohl Kinder gibt, die gar nicht wissen, dass sie auch deutschstämmig sind. Sie kamen in Waisenhäuser, sie wurden adoptiert, als Findelkind auf die Türschwelle gelegt oder als verwandtes Kind der Großfamilie ausgegeben. Auf Kreta, im Dorf Matala, habe ich ein Wehrmachtskind entdeckt und mit ihm ein Treffen ausgemacht. Er hat mich versetzt. Er sagte, seine Familie wolle nicht, dass er mich trifft.

In Griechenland sind Familienbande und das Clandenken immer noch stark ausgeprägt. Hat diese Besonderheit das Leben der Wehrmachtskinder beeinflusst?

Alle Gesprächspartner berichteten übereinstimmend, dass über das Thema von den Nachbarn nur hinter vorgehaltener Hand und nie offen diskutiert worden sei. Der ganze Ort hätte über die Familienverhältnisse Bescheid gewusst, nur das „Opfer“ sei  im Dunkeln getappt. Wie im Fall von Giorgos P., der ohne den Streit auf der Straße, wo er als „Deutschenbastard“ beschimpft wurde, nie über seine Herkunft erfahren hätte. Während der Kriegs- und Nachkriegszeit verhielten sich die Nachbarn oft opportunistisch und pflegten gute Beziehungen zu den „Soldatenbräuten“, um auch von der Hilfe der Soldaten zu profitieren. Nach der Besatzung änderte sich diese Einstellung grundlegend und schlug von wohlwollender Tolerierung ins Gegenteil um.

Wie kam es zu den Beziehungen zwischen griechischen Frauen und deutschen Soldaten?

Heiraten war Wehrmachtssoldaten anfangs grundsätzlich untersagt und erst ab 1942 bei „rassisch Verwandten“ erlaubt. Die Soldaten wurden aufgerufen, die nationale Reinheit zu bewahren, indem sie Kontakte zu griechischen Frauen vermieden. Jede Ausnahme sollte deshalb extra von der Wehrmachtsführung genehmigt werden. Wegen der großen Not der Zivilbevölkerung wurden Aufmerksamkeiten wie Zigaretten oder Streichhölzer für Waschen und Bügeln ab Mai 1942 wieder erlaubt. Diese Dienstleistungen schufen ebenfalls eine Möglichkeit, sich näher kennen zu lernen. So wurden aus materiellen „Notbeziehungen“ manchmal die großen Liebesgeschichten, von denen alle Wehrmachtskinder erzählen.

Welches Bild haben die Kinder selbst von ihren Vätern?

In verschiedenen okkupierten Ländern berichteten viele Besatzungskinder von der Lieblosigkeit ihrer Mütter. Die Mütter wurden von der griechischen Gesellschaft oft diskriminiert und diffamiert und gaben vielfach ihren deutschen Kindern die Schuld an ihrer misslichen Lage. Meine Interviewpartner tendierten dazu, den abwesenden Vater zu idealisieren. Die Väter sind ausnahmslos „Gutmenschen“, die die Familie ihrer Mutter zumindest mit Brot versorgten. Obwohl fast alle Wehrmachtsväter in Griechenland Offiziersrang hatten, betonen die Kinder im Gespräch, dass ihre Väter keine Nazis gewesen seien. 


„Die Wehrmacht in Griechenland - und ihre Kinder“ heißt das Buch der Historikerin und Psychologin Kerstin Muth, das 2008 beim Eudora-Verlag in Leipzig erschien. Auf der Grundlage von Interviews mit sechs Kindern deutscher Soldaten in Griechenland wird, eingebettet in die jeweiligen historischen Umstände, ihr biographischer Alltag betrachtet.


In Ihrem Buch dringen Sie tief in die Lebensgeschichten ihrer Interviewpartner ein. Konnten Sie Unterschiede feststellen bei der Persönlichkeitsentwicklung zwischen männlichen und weiblichen Wehrmachtskindern?

Die Jungen haben sich häufig zu Kämpfern entwickelt, während sich die Mädchen meist als Opfer betrachten. Ein Beispiel, wie sich ein Junge zu einem Kämpfer entwickelt hat, ist der Fall von Paul R., der es geschafft hat, sich gegenüber seiner Nazi-Oma durchzusetzen, die ihn mit einer Peitsche geschlagen hatte. Später hat er die Gefangenschaft in der DDR-Zeit überstanden. Heute schätzen Wissenschaftler, dass ein Viertel aller früheren deutschen Kriegskinder unter einem posttraumatischen Stress-Syndrom (PTSS) leidet. Zwanzig Prozent gelten zudem heute noch als belastet – Deformationen, die bis in die Gegenwart andauern. Die Eltern haben ihre Gefühle auf die Kinder übertragen. Die Kriegskinder haben den Auftrag bekommen, nach vorn zu schauen und nicht zurück.

Was ist das Ziel Ihrer Recherche?

Ich möchte den griechischen Wehrmachtskindern helfen, sich zu organisieren, damit sie mit Wehrmachtskindern im restlichen Europa Kontakt aufnehmen und ihre Lebensgeschichte gemeinsam aufarbeiten können. In Frankreich wird geschätzt, dass es über 200.000 Besatzungskinder gibt, in Norwegen ca. 12.000. Sie haben sich organisiert und treffen sich jährlich in Berlin.


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