Was sich geändert hat, ist die Fahrtrichtung
Im Januar 1991 versammelten sich in Riga etwa 500.000 Menschen um für ihre Freiheit und für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu demonstrieren. Sie errichteten Barrikaden, positionierten Wachen vor strategisch wichtigen Gebäuden und verbarrikadierten das Rundfunkhaus und den Fernsehturm. Mit dabei waren auch Janis Stalazs und seine Frau Gunta, die am Funkhaus und am Freiheitsmonument Stellung hielten, während ihr Sohn, der damals 15-jährige Artur, gemeinsam mit dem Rest der Familie angespannt vor dem Radio saß und die Berichterstattung über die Geschehnisse verfolgte. Die Situation war unübersichtlich, geradezu chaotisch, erinnert sich Artur. Niemand wusste genau, was auf ihn zukommen würde.
Artur und seine Frau Kristine, Foto: Thorsten Pohlmann
Die Altstadt von Riga verwandelte sich in eine Hochburg des Protests. Die Spannungen in der Bevölkerung stiegen. In der Nacht vom 20. Januar folgten die ersten Schüsse, als Sicherheitsleute der Spezialeinheiten der OMON-Milizen versuchten, das besetzte Innenministerium zu stürmen. Maschinengewehrsalven knatterten in die Stille der Nacht hinein, es gab Tote. Was die Menschen damals noch nicht ahnten: Der Vorfall sollte der Anfang vom Ende der sowjetischen Okkupation Lettlands sein. Ein Jahr, nachdem Ostdeutschland seinen Beitritt zur Bundesrepublik vollziehen konnte, fanden im Sommer 1991 die drei baltischen Republiken ihre Unabhängigkeit wieder.
An einer Stelle neben dem lettischen Parlament, Saeima, dort, wo einst die Barrikaden standen, ist nun ein kleines Monument errichtet worden, das an die Geschehnisse von damals erinnert. Fast jeden Tag liegen an der Gedenkstätte frische Blumen. Auch Artur und seine Frau kommen jedes Jahr dorthin, um Blumen niederzulegen. Für das junge Paar ist die Geschichte ebenso wichtig wie ihr Familienglück und ihre Zukunft. Achtzehn Jahre nach der Wende in Lettland ist Artur Doktorand und lehrt Biologie an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Lettischen Universität. Er liebt die Vielfalt in der Natur.
Fasziniert ist er vor allem davon, so sagt er, dass die äußerst komplexen Systeme in der Natur in der Lage sind, ein gewisses Gleichgewicht zu bewahren oder dieses, wenn es gestört worden ist, wiederherzustellen oder sich neuen Umständen anzupassen. Er bezieht diese Sichtweise auch auf Prozesse in der Gesellschaft in der Folge der Ereignisse jener dramatischen Tage.„Niemand war damals davon überzeugt oder dachte, dass die Proteste das Ende der sowjetischen Okkupation bedeuten würde.“ In den folgenden Monaten blieb die Lage ruhig, wenn auch angespannt. Die Menschen gingen ihrem normalen Leben nach, zur Arbeit, zur Schule, während sich die politische Situation im Lande veränderte.
Im August 1991, als in Moskau die russischen Kommunisten in einem versuchten Staatsstreich den letzten, erfolglosen Versuch unternahmen, den Zerfall der Sowjetunion aufzuhalten, nutzten die baltischen Staaten die Gunst der Stunde und entzogen sich dem Diktat Moskaus. Mit dem Ende der sowjetischen Herrschaft öffnete sich für Lettland die Tür zum Westen. Die nüchterne Bilanz nach knapp zwanzig Jahren Leben in Freiheit sei, sagt der heute 34-jährige Artur, dass das lettische Volk sich nicht nur mit dem verheerenden Erbe des Kommunismus, sondern auch mit den negativen Folgen des ungezügelten Kapitalismus auseinandersetzten musste.
Im Wirkungsfeld dieser beiden Systeme und unter dieser doppelten Belastung habe die lettische Gesellschaft noch keineswegs den Weg zur Normalität gefunden. Probleme seien die sich aus den kommunistischen Zeiten nun unter anderem Vorzeichen etablierende Vetternwirtschaft und die moralische und politische Unreife der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der Freiheit als Anarchie missverstanden wird, als wäre im Kapitalismus alles erlaubt, was dem Eigenwohl dient. Diese, sagt Artur, folgenschwere Fehlinterpretation der Demokratie sei bis in die Führungsetagen zu beobachten. In Arturs Stimme ist die Enttäuschung über diese Entwicklung deutlich zu spüren. Ernüchtert fügt er hinzu „Was sich im wesentlichen geändert hat, ist die Fahrtrichtung. Früher fuhren wir ohne Visum in den Osten, heute in den Westen.“
Mit halblauter Stimme ruft Arturs Mutter, in einem alten Sessel sitzend, ihrem Sohn zu, „dass sich, trotz der Rhetorik der Politiker, gar nichts ändern wird“. Dabei hebt sie die Hand und macht eine abfällige Bewegung zum Boden hin, als wenn sie damit das gesamte System zur Seite schieben könnte. Sie ist vertieft in ihre Gedanken an die damalige Zeit, schaut stumm auf die Wand. Auch Arturs Eltern hatten sich wie viele andere Letten aktiv dem friedlichen Volksaufstand angeschlossen. Ihre Reaktion lässt erahnen, wie groß die damaligen Hoffnungen gewesen sein müssen und wie groß die heutige Resignation ist.
Ganz wie seine Mutter möchte Artur sich nicht geschlagen geben. Die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern sich in Lettland, auch wenn dies oft nur in einem Schneckentempo geschieht. Für ihn ist es wichtig, seine Rechte und Einflussmöglichkeiten an der Wahlurne wahrzunehmen. Mit Blick auf die kommenden europäischen Parlamentswahlen hofft er, dass sich das europäische Ausland mehr in den baltischen Staaten engagiert und mehr Druck auf die politische Führung ausübt, damit diese beständiger gegen Korruption und Vetternwirtschaft vorgeht und dringende Reformen einleitet. In Arturs Augen ist der lettische Staat alleine nicht in der Lage, der politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes ohne Druck von außen Herr zu werden.
Maja und ihr Mann Juris, Foto: Thorsten Pohlmann
Arturs Schwester Maija macht sich über die ganze Aufregung und die Äußerungen ihres älteren Bruders lustig, „ein typischer Großstädter“ sagt sie lachend und blickt dabei verlegen zur Seite. Die 24-Jährige wohnt gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem kleinen Dorf auf dem Lande. Sie ist in ein freies Lettland geboren worden. Ein Lettland, das seine nationale Identität aus der friedlichen Existenz seiner Bürger und aus ihren kulturellen Gemeinsamkeiten ableitet.
Das, was in Lettland für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt, ist der Gemeinschaftsgeist, der sich besonders in den traditionellen Tanz- und Sängerfesten, in den Volksliedern, in den vielen Festen wie zum Beispiel dem Mittsommerfest „Ligo und Jani” äußert und maßgeblich zu Bewusstwerdung der lettischen Nation beiträgt.Für Maija haben diese Werte eine besondere Bedeutung. Sie nimmt das Leben gelassen, liebt Lettland und seine wunderschöne Natur. Deswegen hat sie sich bewusst für das Leben auf dem Lande entschieden. Die Geschichte ist für sie nicht so wichtig und auch die Tagespolitik spielt für sie nur eine untergeordnete Rolle.
„Ein friedliches Leben, eine glückliche Familie, und ein Dach über dem Kopf, ist das, was zählt“, sagt sie. Diese äußerst pragmatische Sicht auf die Dinge des Lebens teilt sie mit vielen ihrer Altersgenossen. Dennoch ist sie sich über die Bedeutung der erlangten Freiheit bewusst: „Selbstständig Entscheidungen treffen zu können und Verantwortung für das eigene Leben zu tragen, das sind die Freiheiten, die wir mit der Revolution erkämpft haben.“Für Maijas Generation der heute 20-Jährigen ist diese Freiheit eine Selbstverständlichkeit.
Was bisher auf der Strecke geblieben ist, sind zukunftsweisende Visionen und Strategien. Diese haben auch heute noch keinen festen Platz im politischen Diskurs gefunden. Pragmatismus und Populismus gehen Hand in Hand. Die Normen und Werte einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft, sagt Artur, würden nur unzureichend gelehrt. Dazu komme, dass die jungen Erwachsenen keine eigenen Erinnerungen an das totalitäre System haben. Das schaffe Platz für eine Kultur der Verharmlosung, die den vielen Opfern der Gewaltherrschaft in keiner Weise gerecht wird. „Möchte Lettland eine bessere Zukunft haben“, sagt Artur, „dann gehört dazu genauso eine lückenlose Aufklärung der Geschichte wie auch der Wille des Volkes, sich in die politischen Prozesse des Landes aktiv einzubringen.“