Nostalgie-Welle verklärt die Sowjetzeit
Fernsehen, Musik, Mode und Cafés blühen im Sowjet-Charme der 50er und 60er Jahre auf / Kritik von russischen Intellektuellen(n-ost) – In der Bar Hemingway in Sankt Petersburg treffen sich an Wochenenden die Jungen und Erfolgreichen von Russlands nördlicher Kulturmetropole Sankt Petersburg. Doch wer langbeinige Blondinen in kurzen Röcken und Eitelkeiten ohne Ende erwartet, wird enttäuscht. „All dieser Schnickschnack der satten Zeiten ist völlig out“, sagt Igor Setschin, Artdirektor dieses In-Lokals in der Sankt Petersburger Innenstadt. Angesagt sind dafür Partys mit Nostalgie-Flair.Vor einer Woche hat der 28-jährige Setschin in seiner Bar eine Retro-Party im Stil der 50er-Jahre ausgerichtet. Die sei ein voller Erfolg gewesen, erzählen sich Party-Gänger in der Stadt. „Ein Riesenspaß war das“, legt Setschin nach. „Wir hatten rund 600 Gäste, die Hälfte von ihnen kam in der Mode der 50er – in grellen Kleidern und Anzügen, mit bunten Hemden, Lackschuhen und mit den Frisuren der damaligen Zeit“, erzählt Igor Setschin. Aufhänger für die Party war der im vergangenen Dezember angelaufene Musikfilm des Regisseurs Valerij Todorowskij „Stiljagi“, zu Deutsch „Die auffällig Durchgestylten“.
Igor Setschin, Artdirektor des In-Lokals Hemmingway-Bar in der Sankt Petersburger Innenstadt. Foto: Tatjana MontikDer bei den Jugendlichen inzwischen hoch im Kurs stehende Film über das Leben, die Musik und die Liebe in einem totalitären Staat berichtet über die nonkonformistische Jugendbewegung in der Sowjetunion Anfang der 50er-Jahre. Aus einem inneren Protest gegen den grauen sowjetischen Alltag hatten sich die sowjetischen Stiljagi an der westlichen Jazz- und Rock'n'Roll-Musik orientiert und daran, was sie für westliche Mode und westliche Werte hielten. Sie kleideten sich bunt und schräg, sie gelten sich Frisuren á la Elvis Presley und sie kauften auf dem Schwarzmarkt verbotene Schallplatten mit westlichen Hits.Allerdings sei es nicht Todorowskijs Broadway-artiges Musical gewesen, das das Revival der 50er ausgelöst hat, sagt Lev Lurje, Kunst- und Geschichtsexperte und Dokumentarfilmer beim Sankt Petersburger Stadtfernsehen. Dieser Film sei ein Tribut an die Nostalgie-Welle, in der Russland schon seit einiger Zeit lebe, nicht ihr Auslöser, glaubt Lurje.In der Tat erlebt Russland derzeit eine heftige Nostalgie-Welle. Cafés und Restaurants im Stil der sowjetischen Epoche sind äußerst beliebt. Hoch im Kurs stehen auch alte sowjetische Spielfilme, während in den neuen Filmen die Stalin- und Breschnew-Ära idealisiert dargestellt werden. Die gealterten Stars der sowjetischen Pop-Szene – Alla Pugatschowa, Sofia Rotaru, Valerij Leontijew und Lew Leschtschenko – sind im Fernsehen wie im Rundfunk allgegenwärtig. Das Fernsehen bringt Unterhaltungs- und Nachrichtenprogramme nach den besten Mustern der Breschnew-Ära. Zu den beliebtesten Radiosendern zählen Radio Nostalgie und Radio Retro.fm. Alte Schlager aus den 50er bis 80er Jahren werden neu aufgelegt – mit Erfolg bei der jungen Generation ebenso wie bei der alten.
Nostalgie-Café „Wie früher“ in Sankt Petersburg. Foto: Tatjana MontikEs entsteht der Eindruck, dass es in Russland kaum jemanden gebe, der keine Sehnsucht nach den alten Sowjetzeiten hätte. Die Menschen der älteren Generation denken wehmütig an ihre Jugend zurück. Der Kommunismus mit seiner ideologischen Paranoia, seinem ewigen Warenmangel und dem grauen Alltag scheint in tief versteckte Ecken des Gedächtnisses einer Nation verdrängt worden zu sein.„Viele meiner Altersgenossen sitzen zusammen mit ihren Kindern und Enkelkindern wie verzaubert vor der Glotze, wenn dort Eiskunstlaufshows und Pop-Konzerte mit den immerwährenden Stars aus der Breschnew-Zeiten gezeigt werden“, klagt die 74-jährige Sankt Petersburger Schriftstellerin Nina Karneli. Ihr Kollege Samuil Lurje bestätigt: „Russland ist wohl das einzige Land, in dem die Fernseh- und Pop-Stars hässliche Gestalten gegen 70 sind.“Samuil Lurje ist der Meinung, all das komme daher, dass die Sowjetunion und die Macht des Geheimdienstes, niemals zu existieren aufgehört hätten. „Die Sowjetmacht und unser Regime von heute sind dieselbe Erscheinung. Damals wie heute wollen sie nur eine Sorte Mensch kultivieren – das absolut untalentierte Mittelmaß. Und wenn unser Regime über so viele Generationen besteht, führt das zu einem kulturellen, moralischen und sogar physischen Niedergang.“Im neuen Russland sei bis heute weitgehend unbekannt, dass es nicht nur unter Stalin, sondern auch unter Breschnew Repressionen gegeben habe, sagt Nina Karneli. Viele glaubten, dass alle, die im Gefängnis gesessen haben, dies verdient hätten. Auch von Warenmangel wolle man in den Großstädten nichts wissen. Dass früher beispielsweise regelmäßig Menschen in vollen Zügen aus den Dörfern nach Moskau oder Leningrad reisten, um dort Wurst, Schokolade, Kaffee und andere Mangelwaren zu kaufen, sei heute nicht mehr bekannt.
Nina Karneli, Sankt Petersburger Schriftstellerin, klagt darüber, wie sehr ihre Altersgenossen die Sowjetunion verklären. Foto: Tatjana MontikAls Gorbatschows Perestrojka losging, sei plötzlich den demokratisch Gesinnten vorgeworfen worden, an all den Entbehrungen des großen Landes schuld zu sein, erinnert sich Nina Karneli. In der Perestrojka hätten die Menschen nicht verstanden, was um sie geschah und wozu all das überhaupt nötig gewesen sei, glaubt sie. Wladimir Putins neuer Staat sollte wieder an die Stabilität der Breschnew-Jahre anknüpfen. Als Preis für diese neue Ordnung standen die bürgerlichen Freiheiten auf der Rechnung, auf die die meisten gerne verzichten wollten.Dass aber auch die junge Generation, die heute 16- bis 25-Jährigen, die den Kommunismus nicht mehr erlebt hat, der Sowjetnostalgie verfällt, erklärt Igor Setschin von der Hemingway-Bar so: „Sie haben von ihren Eltern und Großeltern viel Gutes über die Sowjetunion gehört, so dass sie mal selber ‚das sowjetische Leben’ ausprobieren wollen.“ Außerdem habe Russlands Jugend keine Orientierung, fügt Setschin hinzu. Vielen Jugendlichen fehlten Möglichkeiten und Geld für eine kreative Entfaltung in der Freizeit. Sie wissen, dass man in der Sowjetunion seine Talente in verschiedenen kostenlosen Einrichtungen entwickeln konnte.Für das Phänomen Nostalgie hat Setschin aber noch eine andere Erklärung: „Wir erleben derzeit eine Krise der Ideen. Deshalb wird auf alte Werte gesetzt, da man keine neuen hat.“ Der Schriftsteller Samuil Lurje ist der Meinung, die russische Gesellschaft habe niemals im Heute gelebt, weil die Gegenwart für sie immer zu schrecklich war. Dafür habe sie sich aber stets mit dem Glauben an eine bessere Zukunft getröstet. Leider sei dieses Gefühl für die Zukunft völlig abhanden gekommen, findet der Schriftsteller.Das ist wohl auch der Grund dafür, dass die inzwischen dritte Auflage der einstigen Protestbewegung Stiljagi (die zweite entstand während der Perestrojka) keinen politischen Unterton, keinen Protest beinhaltet. Es sind eher die verklärten Bilder der Vergangenheit, die anziehend wirken.Tatjana Montik
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