Russland

OFFENE WORTE IN DER WIRTSCHAFTSKRISE

Der russische Präsident entlässt Gouverneure und will sich mit einer neuen Offenheit das Vertrauen der Menschen sichern

(n-ost) – Abwrackprämie auf Russisch: Das russische Staats-Fernsehen zeigte, wie in einer Stadt im russischen Fernen Osten der gesamte Dienstwagen-Fuhrpark verscherbelt wird. Den Nutzen haben der Not leidende kommunale Haushalt und die Käufer der Fuhrpark-Bestandteile, die nun gebrauchte, aber gepflegte Wagen fahren dürfen. Die Komfort-gewöhnten Beamten in Russland müssen indes auf „vaterländische“ Modelle umsteigen, wie den in Nischni Nowgorod produzierten Volga Siber, eine Chrysler-Lizenz-Produktion. Kreml-Chef Dmitri Medwedew fordert Sparmaßnahmen auf allen Verwaltungsebenen.Doch nicht nur damit versucht Medwedew zu demonstrieren, dass er in der Wirtschaftskrise handelt. Am Montag setzte er mit einem Handstreich vier Gouverneure ab. Der Kreml-Chef sprach von „mangelnder Begabung, Schlamperei und Faulheit“. Ihren Sessel räumen müssen Jegor Stroew (Gebiet Orel), Wladimir Kulakow (Gebiet Woronesch), Waleri Potapenko (Autonomes Nenzen-Gebiet) und Michail Kusnezow (Gebiet Pskow). Medwedew erklärte, die „Rotation der Gouverneure“ werde weitergehen. In der Krise sei es nötig „unter neuen Bedingungen“ zu arbeiten. „Es wird prinzipiell andere Anforderungen geben.“„Die Krisen-Erscheinungen in der Wirtschaft lassen nicht nach, sondern wachsen“, erklärte der Präsident, der nun regelmäßig im Fernsehen über den Zustand der Wirtschaft sprechen will. Dagegen hatte Ministerpräsident Putin bisher in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken versucht, dass die Führung des Landes die Krise voll im Griff hat. Unablässig berichtete das Fernsehen über einen ominösen „Anti-Krisen-Plan“, den aber eigentlich niemand genau kennt.Offenbar aber hat Medwedew, der sich schon häufiger zu demokratischen Prinzipien bekannte, erkannt, dass Offenheit das beste Mittel zur Vertrauensbildung ist. Denn die Menschen im Land bekommen die Krise indes täglich mehr zu spüren. Auf den Straßen von Moskau sieht man trotz des kalten Winterwetters wieder Frauen, die Haushaltsware, Kleidung oder Fleisch verkaufen – oft direkt aus dem Kofferraum eines Ladas. Ähnliche Bilder gab es zuletzt in den 1990er Jahren, als die Menschen sich mit Handel und dem Eigenanbau von Gemüse über Wasser hielten.Jetzt zwingt die Finanzkrise die Menschen dazu, den Rubel zweimal umzudrehen. Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums sparen bereits 70 Prozent der Russen bei der Ernährung und bei den Waren des unmittelbaren Bedarfs. Die offizielle Zahl der Arbeitslosen von derzeit 1,7 Millionen Menschen (5,7 Prozent) werde sich nahe zuverdoppeln, prognostiziert Jewgeni Gontmacher, Leiter des Zentrums für Soziale Politik bei der Russischen Akademie der Wissenschaften. Real würden demnächst jedoch von 142 Millionen Russen zehn Millionen arbeitslos sein, schätzt Gontmacher. Schon jetzt haben 1.000 Unternehmen für ihre Mitarbeiter Kurzarbeit und unbezahlten Urlaub angemeldet, wie Vizepremier Aleksander Schukow erklärte.Der neue Stil der Offenheit von Medwedew kommt vielleicht gerade noch rechtzeitig. Denn wie das WZIOM-Meinungsforschungsinstitut ermittelte, geht die Zustimmung für die Arbeit von Medwedew und Putin deutlich zurück. Während mit der Arbeit von Präsident Medwedew und Premier Putin im September letzten Jahres noch 79 bzw. 81 Prozent zufrieden waren, befürworteten die Arbeit der beiden Politiker Anfang Februar nur noch 69 bzw. 74 Prozent.Der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow erteilte indes bereits die Anordnung, in allen Stadtteilen neue Frei-Luft-Märkte zu genehmigen. „Besser die Menschen handeln, als dass sie nach staatlichen Zuwendungen Schlange stehen“, so das Stadtoberhaupt. Doch bei einem Arbeitslosengeld von umgerechnet 19 bis 111 Euro monatlich dürften die Schlangen eh nicht allzu lang werden.Ulrich Heyden
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