Russlands frohe Botschaft
Eigentlich hätte er längst im Zug sitzen sollen. Nach Hause fahren, ins ferne Westsibirien, in sein Dorf Kamenka bei Tjumen. Doch Wladimir Judin ist in der Hauptstadt geblieben, ist auf den Sacharow-Prospekt geeilt, eine breite Allee zwischen Neubau-Klötzen, nach dem russischen Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow benannt. Zehntausende protestierten im Nordwesten Moskaus friedlich gegen die offensichtlichen Wahlfälschungen bei der Parlamentswahl am 4. Dezember. Im Westen war gerade Heiligabend.
Die Straße ist von Metalldetektoren gesäumt, von Tausenden Polizisten umstellt. Sie aber fallen nicht auf, in der Menge der Menschen, die bei -7 Grad Kälte vier Stunden lang lautstark ein „Russland ohne Putin“ fordern und „Das Volk hat die Macht“ skandieren. Von 30.000 Demonstranten sprechen die Staatsdiener, von 120.000 die Veranstalter. Die Wahrheit, sie liegt irgendwo dazwischen. Die Wahrheit ist aber auch diese: Es sind die größten Proteste seit dem Zerfall der Sowjetunion, noch größer als vor zwei Wochen. Der Ton wird schärfer, der Unmut größer. Selbst der einstige Putin-Vertraute, der vor drei Monaten geschasste Finanzminister Alexej Kudrin, verbrüderte sich überraschend mit den Demonstranten, sprach von Neuwahlen. Der sowjetische Ex-Präsident Michail Gorbatschow forderte den Noch-Premier Wladimir Putin gar zum Rücktritt auf. „Ich würde ihm raten, sofort zu gehen. Zwei Amtszeiten als Präsident, eine Amtszeit als Regierungschef sind im Grunde drei Amtszeiten, das reicht nun wirklich“, sagte er im Radio Echo Moskwy.
„Ich wollte mit eigenen Augen sehen, ob es stimmt, was im Internet steht, ob es wirklich ein politisches Erwachen in unserem Land gibt“, sagt der 40-jährige Versicherungsfachmann Judin. Er ist selbst Mitglied einer Partei, von „Gerechtes Russland“, sitzt im Dorfrat von Kamenka, hat die Wahlen beobachtet. „Es ging nicht mit rechten Dingen zu.“ Im Jahr 2000 hat er seine Stimme noch Wladimir Putin gegeben, „aus Überzeugung“. Von „einem Dieb“ aber wolle er sich nicht länger regieren lassen.
Nun sieht Judin Menschen, die sich weiße Bändchen an die Jacken und Mützen heften, das Symbol für den Kampf für ehrliche Wahlen, sieht Plakate, auf denen steht „Ich will nicht unter Putin sterben“ oder „Danke, dass ihr uns zum Denken gezwungen habt“. Er hört Sätze des Schriftstellers Dmitri Bykow, der von Putins Schattenrussland spricht und von der Geburt des russischen Wandels. „Die Wehen haben schon eingesetzt.“ Judin lauscht dem Applaus für den Blogger Alexej Nawalny, als dieser in die Menge ruft „Wir könnten schon heute das Weiße Haus stürmen. Aber wir sind friedlich und machen es nicht. Noch nicht.“ Er vernimmt auch die Buhrufe, als der Nationalistenführer Wladimir Tor ein „Russland den Russen“ fordert und es ihm aus Zehntausend Kehlen ein „Russland für alle“ entgegenschallt.
Judin steht neben Unzufriedenen wie der Studentin Julia Michejkina, 21, die gerade einmal sieben Monate alt war, als die Sowjetunion vor 20 Jahren fast auf den Tag der Demonstration genau abgewickelt wurde und nun vom „wahren Ende der Sowjetunion“ spricht. Im Internet hat sie sich mit Freunden zum Protest versammelt, plötzlich sei ihr klar geworden, was Politik bedeute. „Nur an uns liegt es, was aus Russland wird“, sagt sie und spricht genauso wie die 70-jährige Sara Kusnezowa, die zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demo ist und fast trotzig bemerkt: „Man muss ja endlich.“ Sie alle frieren hier und wollen nur eins: ehrliche Wahlen und den Wandel zu einem transparenten politischen System ohne Korruption.
Die Reformversprechen, die der Noch-Präsident Dmitri Medwedew vor wenigen Tagen überraschend gemacht hatte, vor allem die Direktwahl von Gouverneuren, nimmt auf dem Sacharow-Prospekt niemand ernst. Zu viel habe er bereits versprochen, zu wenig sei getan worden. Doch wer sich Putin als Präsidentschaftskandidat in den Weg stellen könnte, weiß auch hier niemand. „Putin wird gewinnen, das Vertrauen hat er aber längst verloren“, sagt Judin und will im fernen Kamenka von den Protesten in der Hauptstadt erzählen.
Die Menschen demonstrieren quer durch das riesige Land, in Wladiwostok, in Krasnojarsk, in Perm, in Tscheljabinsk, in St. Petersburg. Es sind Demokraten, Liberale, Kommunisten, Nationalisten, Anarchisten. Es sind Wladimir, Sara und Julia. Es sind Zehntrausende. Und sie wollen wiederkommen, schon Ende Januar.