Bulgarien

Was bleibt, ist Traurigkeit

Mächtig und strahlend sollte es sein, wie ein Pfeil aus den Tiefen der Vergangenheit in eine unerschütterlich fortschreitende Zukunft weisen . Heute bröckeln die Platten vom Denkmal auf dem Platz vor dem Nationalen Kulturpalast in Sofia, das 1981 die 1300-jährige Geschichte Bulgariens feiern sollte. Das Metallgestell liegt an vielen Stellen bloß.

„Ein Symbol für den Kommunismus“, sagt Peter Dobrev. Für die großen Ambitionen und den unausweichlichen Niedergang. Der 23-Jährige, groß und schmal, die Augen blau, der Blick meist ernst, würde das Denkmal lieber heute als morgen entfernen. Um das dunkle Gefühl loszuwerden, das er spürt, wenn er vorbeigeht. „Ein Dialog mit der Geschichte“, erwidert Diana Ivanova. Weil das Denkmal sich verändert. Statt ehrerbietiger Blumen schmücken es nun freche Graffiti. Die 40-Jährige mit den fliegenden Locken und warmen dunklen Augen will das Denkmal behalten. Sie mag die Interaktion mit ihm.




Diana Ivanova und Peter Dobrev vor dem Denkmal der 1300-jährigen Geschichte im Zentrum der bulgarischen Hauptstadt Sofia. / Bistra Boshnakova, n-ost

Diana Ivanova und Peter Dobrev haben sich bei einem Zeitungsprojekt kennen gelernt. Schnell haben sie ihr jeweiliges Interesse an der Vergangenheit entdeckt. Jetzt planen sie gemeinsame Projekte, beispielsweise eine Untersuchung der Medien zur Zeit der Wende. Auf den ersten Blick überwiegen die Parallelen in ihren Biografien: Zwei sehr talentierte Journalisten, unter den besten ihres Jahrgangs, kritisch und unangepasst. Sie sehen, dass der Kommunismus Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hat, die kaum beachtet werden. Und beide versuchen sich als Fährtenleser, um mit den Altlasten eines Systems umzugehen, das Peter nur aus Erzählungen kennt, für Diana aber ein halbes Leben bedeutet hat.

Diana Ivanova betrachtet die Vergangenheit wie unter einem Mikroskop, seziert die einzelnen Bestandteile, dreht und wendet sie, legt sie neu zusammen wie in einem Puzzle. Ein Puzzle, bei dem am Ende das Bild von ihr selbst klarer werden soll, und das Bild ihrer Generation. Zur Zeit der Wende studiert sie Journalismus. Schnell wird ihr klar, dass ihre Zukunft nicht in der „Rabotnishesko Delo“, der kommunistischen Parteizeitung, oder einem der anderen Staatsorgane liegt. Doch bevor sie sich versieht, tritt Staatschef Todor Zhivkov zurück, es folgt die Zeit der Demonstrationen.

Besonders die Versammlung vor dem Parlamentsgebäude am 14. Dezember 1989 ist ihr im Gedächtnis geblieben. Die große Menschenmenge, die ausgelassene Stimmung, die Aufregung über das neue Erlebnis, das Gefühl: Alles ist möglich! Dann die Wut, als das Fernsehen eine Reportage zeigt und von „extremistischen Massen“ die Rede ist. Eine Debatte bricht plötzlich los: Wer sind die Extremisten? Ich bin keine Masse! Die Mutter, die besorgt aus der Provinz anruft und sagt: Geh nicht auf die Straße, das ist gefährlich!Es folgen Auseinandersetzungen mit den Eltern. Was bleibt, ist ein tiefer Schock – über die Manipulation der Medien, deren Darstellung von der Wende vor allem das Bild der Menschen in der Provinz prägt. Und die ungeheuerliche neue Freiheit, die für Diana Ivanova vom ersten Moment an bedeutet: die Freiheit zu gehen. Weg von hier, ins Ausland.

Doch stattdessen beginnen drei Jahre voll Enthusiasmus bei einer neu gegründeten Zeitung, beim Fernsehen. „Es waren tolle Teams mit jungen, ehrgeizigen Leuten. Ich habe gespürt, es geht voran, wir können etwas ändern.“ Doch dann kam der Rückschlag: Das Führungspersonal wurde entlassen, plötzlich kamen die alten Gesichter wieder auf die hohen Posten. „Alles ist sehr schnell wieder in alte Bahnen gegangen und wir hatten das idiotische Gefühl: Woran haben wir eigentlich geglaubt?“ 1995 geht sie nach Prag zu Radio Freies Europa. Sieben Jahre bleibt sie dort, fern der Heimat und den Gedanken an die Vergangenheit, bis sie merkt, dass es so nicht geht. Dass sie einen Teil ihrer selbst verdrängt. 2003 kehrt Diana Ivanova nach Bulgarien zurück, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Peter Dobrev hat mehr Abstand zur Vergangenheit. Für ihn ist sie keine Sinnsuche, sie gerät ihm einfach ständig in die Quere. Immer wieder quillt sie hervor, alles ist noch immer mit ihr verknüpft. Eigentlich hat es sogar nie einen Bruch mit ihr gegeben. Dieselben Protagonisten wie vor der Wende sind noch immer im öffentlichen Leben aktiv, sie bestimmen die Politik, die Wirtschaft. „Gestern habe ich ein Interview im Fernsehen gesehen mit einem ehemaligen Chef der Staatssicherheit“, erzählt er. „Er sollte keine Interviews geben sondern vor Gericht stehen!“Die alten Strukturen demotivieren die Jugend. „Es gibt keine Partei, der wir trauen.“ Zwar gehe es seiner Generation ökonomisch überwiegend gut. Viele können zum Studieren ins Ausland gehen, nur wenige sehen sich noch gezwungen, dort auch ihre Zukunft zu finden. „Es gibt trotzdem vieles, was uns nicht gefällt. Aber wir sehen kaum Möglichkeiten, das zu ändern oder es geht nur sehr langsam. Wir sind von der Politik total enttäuscht.“

Peter Dobrevs Interesse am Realsozialismus kommt vor allem durch seine Familie. Sie stand in Opposition zum Regime. Einige Familienmitglieder wurden ins Gefängnis und in Lager gesperrt, einige wurden getötet. Im Gegensatz zu vielen anderen Familien sprach man bei ihm zu Hause darüber. Und im Gegensatz zu vielen seiner Freunde ist für Peter Dobrev die Geschichte nicht wie ein fernes Land aus einer anderen Zeit. Für ihn haben alle Probleme, mit denen sein Land heute zu kämpfen hat, dort ihren Ursprung. Die Korruption, die Armut. „Die Politiker sprechen nicht von der Vergangenheit. Oder sie zeichnen ein idyllisches Bild von ihr, so dass die Frage nach den Schuldigen gar nicht erst aufkommt. Niemand redet von den Lagern. Das ist, als ob sie nicht existiert hätten.“ Ein Affront für die Familie und alle, die unter dem Regime gelitten hätten. Und eine der vielen Enttäuschungen, die sich seit 1989 der meisten Bulgaren bemächtigt haben wie ein Virus, der langsam aber sicher die Gesellschaft lahm legte.

Enttäuschung und Traurigkeit – dieses Gefühlserbe raubt Peters Generation den Mut zu kämpfen, Dianas Generation ist gefangen in ihm. In der Traurigkeit darüber, dass sie nicht wussten, wie sie den großen Enthusiasmus in etwas Konkretes umsetzen konnten. Darüber, das so viele ins Ausland gegangen sind und die Möglichkeit versäumt haben, das Land zu ändern. Dass viele keinen Weg gefunden haben, mit der neuen Freiheit umzugehen. Eine Traurigkeit über die eigene Schwäche und Hilflosigkeit. Zu sehen, was alles nicht passiert ist. Dass sie so unvorbereitet waren. Eine Traurigkeit zu erkennen, wie Bulgarien wirklich ist, abseits der einstigen Propaganda vom Schönen, Guten, Großen. Dass es Behinderte gegeben hat, dass es Lager gegeben hat, dass sie so vieles nicht gewusst haben.

„Wir haben in einer Scheinwelt gelebt“, sagt Diana zu Peter. „Wir waren so davon geprägt, nur das Schöne zu sehen und danach zu streben. Für mich war es ein Schock, und für viele ist es noch immer schwierig, das ganze Hässliche, was nach der Wende hochkam, zu akzeptieren.“ Protest wurde für die Älteren, die ihre Hoffnungen bereits hinter sich hatten, bald zur schmerzvollen Farce, erzählt Diana. „Und die Jungen, sie wissen nicht, wofür Proteste ihnen helfen sollen in einem korrupten System“, erwidert Peter. „Und es gibt für uns junge Menschen noch immer keine Tradition, für unsere Rechte zu kämpfen.“

Diana und Peter haben für sich Möglichkeiten gefunden, die erlebte Ohnmacht zu überwinden. Diana Ivanova initiiert Projekte, damit die Erlebnisse aus dem Sozialismus ihren Weg ins kollektive Gedächtnis finden. „Die persönlichen Geschichten, was der Sozialismus für jeden einzelnen bedeutet hat, sind nie erzählt worden“, sagt sie. „Wir haben immer nur ‚wir’ gesagt, oder ‚die anderen’ – nie ‚ich’.“ Auf der Webseite ‚Ich lebte Sozialismus’ sammelte Diana mit befreundeten Kollegen Erinnerungen an Erlebnisse aus der Zeit des Sozialismus. „Dieser Rahmen hat vielen Leuten den Mut gegeben, allmählich darüber zu sprechen.“

Peter hat seinen eigenen Kopf, den er sich auch von keinem Chefredakteur verbiegen lassen will. Ein Stipendium von einer der großen bulgarischen Boulevardzeitungen lehnte er ab. Der Chefredakteur sei schließlich auch einmal bei der Stasi gewesen. Stattdessen schreibt er seine eigenen Blogs. Und dort wirft er immer wieder Themen auf, die er in den Massenmedien nicht findet, oder nur einseitig behandelt sieht. Er steht in regem Austausch mit einer Bloggerszene, die stetig wächst. „Auf diese Weise entwickelt sich auch die Zivilgesellschaft. Denn in den Blogs kann man Meinungen lesen, die in den normalen Medien einfach nicht vorkommen.“

Das Denkmal vor dem Nationalen Kulturpalast in Sofia, so stimmen beide überein, es enthält letztlich all das: die Traurigkeit, die Kontinuität, die Resignation und auch den Neuanfang. Heute ist der Ort vor allem eins: ein Treffpunkt für Jugendliche mit Skateboards oder Fahrrädern, Mütter mit Kindern, Alten und Jungen. Es müsste gelingen, den jungen Leuten die Erfahrungen weiterzugeben und dadurch die eigene Isolation zu durchbrechen, sagt Diana Ivanova. Von den Älteren lernen, um die Situation besser zu begreifen, das wäre wichtig, sagt Peter Dobrev. Für beide ist das schon ein Stück Wirklichkeit.


Weitere Artikel