Russland

Die Retter des alten Leningrad

Bergsteiger schützten während der Blockade von Leningrad die historischen Bauten

(n-ost) - Michail Bobrows Erinnerungen an den Krieg und die Blockade von Leningrad sind so frisch, als wäre alles gestern passiert. Leid, Entbehrungen und Tod gehörten damals zum Alltag. Doch nicht nur die furchtbare Hungersnot und die Kälte des ersten Kriegswinters sind Bobrow im Gedächtnis geblieben. Während der Blockade versuchte der Bergsteiger die historischen Gebäude von Leningrad zu schützen.



Michail Bobrow in seinem Arbeitszimmer. Foto: Tatjana Montik

„Wir haben damals eine sagenhafte Stärke und Geschlossenheit gefühlt“, erinnert sich der Kriegsveteran. „Alle Menschen fühlten sich wie eine große einträchtige Familie“. Zusammen mit Freunden vom Bergsteigerverein kletterten sie auf die Häuser, um sie zu verhüllen. Denn die Bauten mit ihren Spitztürmen und die Kirchen mit den goldenen Kuppeln bildeten für die deutschen Kampfflieger und die Artillerie, die Leningrad gleich vom Stadtrand beschossen hat, perfekte Ziele: Sie waren auffällig und von den deutschen Positionen in der Umgebung von Leningrad schnell zu erkennen.Zunächst habe unter den Denkmalschützern in Leningrad Panik geherrscht, erzählt Irina Grintschenko, führende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums für die Geschichte von Sankt Petersburg. Es habe sogar die Idee gegeben, die wichtigsten Kulturdenkmäler eigenhändig zu zerlegen. Das hätte allerdings ihre Zerstörung bedeutet. Doch im Komitee für den Denkmalschutz arbeitete damals die Hobby-Bergkletterin Natalja Ustwolskaja. Ihre Idee war es, die historischen Bauten zu tarnen und dafür Bergsteigertechnik zu verwenden. Natalja rief ihre Freunde aus dem Bergsteigerverein zusammen – Alja Prigoschewa, Olga Firsowa, Alois Sembo und den damals 18-jährigen Michail Bobrow.„Zuerst nahmen wir uns die Isaak-Kathedrale vor, denn die markante Kuppel dieser Kirche war für den Feind am besten zu sehen“, erzählt Michail Bobrow. Außerdem befanden sich dort die Schätze, die aus den umliegenden Zarenpalästen evakuiert worden waren. Die Bergsteiger kletterten auf die Kuppel der Kathedrale. Während sie sich an den Seilen festhielten, malten sie die Kuppel in Tarnfarben an.



Olga Firsowa beim Verhüllen des Admiralsgebäudes im Sommer 1942. Foto: Archiv Michail Bobrow

Diese Übermaltechnik konnte allerdings für die Kuppeln vieler anderer Kirchen und Türme der Stadt nicht eingesetzt werden. Sie waren vergoldet, und das Gold wäre beim Abwaschen zerstört worden. Deshalb wurden diese Kuppeln verhüllt. Die Arbeit am Admiralsgebäude mit dem spitzen Turm sei besonders schwierig gewesen, erinnert sich Bobrow. Denn man wollte den wertvollen Kunstbau nicht durch die Haken der Bergsteiger beschädigen. Deshalb griffen sie auf Ballons zurück, mit denen sie den eine halbe Tonne wiegenden und wie einen Theatervorhang genähten Überzug nach oben beförderten und an der Spitze des Gebäudes befestigten. Diese Arbeiten hatten einen Monat gedauert.In Hungersnot und Eiseskälte eine derart schwere physische Arbeit zu verrichten, ließ die Kräfte der Bergsteiger mehr und mehr schwinden. „Natürlich dachte damals jeder nur ans Essen und daran, wo er sich aufwärmen könnte“, erzählt Bobrow. „Die Arbeit war wohl das Einzige, womit wir uns von diesen Gedanken haben ablenken können.“ Die schwindenden Kräfte und die Eiseskälte waren jedoch nicht die einzigen Gefahren, die auf die jungen Enthusiasten lauerten.Die deutschen Flieger sahen, wie ihre Hauptziele vom Stadtpanorama verschwanden, und sie eröffneten auf die Bergsteiger eine Jagd aus der Luft. „An manchen Tagen mussten wir unter starkem Beschuss von oben arbeiten“, erinnert sich Bobrow und erzählt die Geschichte einer Kollegin: Sie sei einmal in durch die Kugeln zerfetzter Kleidung von einem Gebäude heruntergestiegen. Sie erzählte, sie sei von allen Seiten beschossen worden. „Gott sei dank wurde sie nicht getroffen“, sagt Bobrow.



Michail Bobrow Anfang der 40er-Jahre. Foto: Archiv Michail Bobrow


Als sich die Bergsteiger am 1. Dezember 1941 die Verhüllung der Kuppeln der Peter- und Paulskirche vornahmen, schliefen sie gleich an ihrer Arbeitsstelle. Öffentliche Verkehrsmittel funktionierten nicht, und für den Fußweg nach Hause reichten ihre Kräfte nicht mehr. In den dicken Kirchwänden war es sogar wärmer als zu Hause, und dort konnten sie einen kleinen Ofen heizen.„Wir arbeiteten nachts, weil wir so vor dem Beschuss durch die deutschen Flieger besser geschützt waren“, erinnert sich der rüstige Kriegsveteran. „Tagsüber schliefen wir – auf den Gräbern der Zarenfamilie. Und wir aßen Tauben, die wirklich köstlich schmeckten, und Raben, deren Fleisch schrecklich zäh war. Dazu gab es Karottentee“.Mit der Kuppel der Peter- und Paulskirche ist auch Bobrows prägendste Erinnerung an die Zeit der Blockade verbunden: „Niemand hat das Stadtpanorama jemals so gesehen wie meine Freunde und ich im Winter 1941/42: Die brennenden Häuser, die gerade abgeschossenen deutschen Flugzeuge und die Schiffe der baltischen Flotte, die sich dem Feind widersetzten. Ein tragisches, ein erschütterndes Bild einer heroischen Stadt, die sich aus letzter Kraft wehrte!“



Die Peter- und Paulskirche im Winter 1942. Foto: Archiv Michail Bobrow


Zwei der Bergsteiger, die die Bauten von Leningrad gerettet haben, überlebten die Blockade nicht. Michail Bobrow wurde an die kaukasische Front abkommandiert. Noch zu Kriegsbeginn hatte sich der damals siebzehnjährige Michail freiwillig an die Front gemeldet. Als er nach fünf Einsätzen schwer verletzt wurde, kam er in ein Militärkrankenhaus nach Leningrad zurück. Dort fanden ihn seine Freunde vom Bergsteigerverein – erst dadurch konnte er überhaupt an der Rettungsaktion der Leningrader Baudenkmäler teilnehmen. Nun, nach Abschluss der Arbeiten, musste er an die Front zurück – in die kaukasischen Berge, wo Bergsteiger der Sowjetunion und Deutschlands gegeneinander kämpften.
Hintergrund:
DIE BLOCKADE VON LENINGRAD
Die fast 900 Tage andauernde Blockade von Leningrad begann am 8. September 1941, als die deutschen Truppen den Süden des Ladoga-Sees besetzt hatten. Leningrad verwandelte sich in eine Frontstadt. Auf alle wichtigen Plätze der Stadt sowie auf Schulen, Krankenhäuser, Straßenbahnhaltestellen und die Eingänge in die Fabrikgebäude wurde regelmäßig das Feuer eröffnet.
Die größten Opfer haben jedoch Hungersnot und Kälte gefordert. Die kleinste Lebensmittelration der umlagerten Stadt betrug im ersten Blockadewinter 125 g Brot pro Person und 250 g für Fabrikarbeiter, die schwere körperliche Arbeit leisten mussten.
Die Blockade hat schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen das Leben gekostet.Tatjana Montik

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