„Auf meiner Armbinde stand 'Zigeuner'“
„Wir mussten gelbe Armbinden tragen. Darauf stand 'Zigeuner'. Die Deutschen nannten mich nur 'Schwarzer'.“ Radisav Osmanovic erinnert sich noch genau an die Zeit der Nazi-Herrschaft in seiner Heimatstadt Aleksinac im Süden Serbiens. 13 Jahre war er alt, als Hitler-Deutschland 1941 Jugoslawien überfallen hatte.Niemand weiß genau, wie viele Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Schätzungen gehen aber von mehreren Zehntausend aus. Unzählige Roma wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht – viele kehrten nie wieder nach Hause zurück. Zahlreiche muslimische Roma in Jugoslawien wechselten auf Druck der Nationalsozialisten ihre Religion und wurden orthodoxe Christen. Auch die Familie von Radisav Osmanovic unternahm diesen Schritt 1941: „Wir mussten das tun, wegen der Deutschen, sonst wäre es uns schlecht gegangen“, erinnert sich der 80-Jährige.
Radisav Osmanovic (rechts) mit seinem „Klub“-Freund Sali Jakupovic / Norbert Rütsche, n-ost
Für jene Roma, die vor oder während des Zweiten Weltkrieges geboren wurden und damit unter der Verfolgung und den Schikanen der Nazis zu leiden hatten, gibt es in Aleksinac einen eigenen Treffpunkt, den alle einfach nur „Klub“ nennen. Radisav Osmanovic besucht den Klub regelmäßig, um sich dort mit Freunden zu treffen, Domino zu spielen und an den angebotenen Ausflügen teilzunehmen.Auch seine Nachbarin Stanojka Milovanovic, war immer wieder im Klub anzutreffen. Doch seit einem Unfall ist die 84-Jjährige nicht mehr gut zu Fuß. In ihrem winzigen Häuschen, in dem es zwar Strom, aber kein fließendes Wasser gibt, hängt die Decke hängt durch die Last der Jahre schon ganz tief. „Immerhin tropft es nicht hinein“, sagt Baba Stojanka, wie sie im Viertel von allen genannt wird, und lacht verschmitzt.
Die kleingewachsene Frau mit den vielen Falten im Gesicht muss mit einer Rente von 60 Euro im Monat auskommen. Deshalb freute sie sich, wenn sie vom Klub Lebensmittelpakete, Hygieneartikel und auch Holz für ihren Herd bekommen hat. Ihr Leben lang hat Baba Stojanka, die weder lesen noch schreiben kann, als Haushälterin bei Ärzten, Direktoren und Lehrern gearbeitet. Seit 16 Monaten kam eine Haushälterin zu ihr ins Roma-Viertel, um sich um sie zu kümmern. Das hatte Baba Stojanka noch nicht erlebt – der „Klub“ hat es ihr ermöglicht.
Baba Stojanka (rechts) und ihre Haushälterin Ruzica Stevanovic / Norbert Rütsche, n-ost
Die Serbin Ruzica Stevanovic (52) und eine Kollegin haben insgesamt 14 pflegebedürftige Roma zu Hause unterstützt – und damit auch ethnische Barrieren durchbrochen. „Ich habe geputzt, gekocht, meine Patienten zum Arzt gebracht, mit ihnen Gemüse für den Winter eingemacht – und viel mit ihnen geplaudert“, erzählt Ruzica. Alte, alleinstehende Menschen wie Stojanka hätten oft niemanden zum reden, niemanden, der ihnen zuhört.Von den rund 60.000 Einwohnern der Gemeinde Aleksinac im sehr armen Süden Serbiens sind geschätzt 4.000 bis 5.000 Roma. 90 von ihnen konnten aufgrund ihres Alters von den Aktivitäten und Angeboten des „Klubs“ profitieren. Dazu gehörten auch eine Rechtsberatung und eine Gesundheits-Sprechstunde. Das von der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) finanzierte Projekt ist in dieser Form Ende 2008 ausgelaufen. Ein weiteres Jahr lang kommt die EVZ noch für den Betrieb des eigentlichen Klubs, also des Treffpunktes der alten Roma, auf.
Insgesamt unterstützte die EVZ mit ähnlichen Projekten in Mazedonien, Montenegro, Rumänien, Serbien und der Slowakei rund 14.000 Begünstigte und stellte dafür 11,7 Millionen Euro bereit. Obwohl es einige Fortschritte gebe, schenke der serbische Staat den Schwierigkeiten der Roma, besonders der Alten, noch immer viel zu wenig Aufmerksamkeit, kritisiert Aleksandra Stevanovic. Sie ist die Leiterin einer lokalen NGO, die für die Arbeit des „Klub“ verantwortlich ist.
Auch in Topaana, einem von 4.000 bis 5.000 Roma bewohnten Viertel in der mazedonischen Hauptstadt Skopje, gibt es einen von der EVZ finanzierten „Klub“ für Senioren. Ein paar Männer sitzen gemütlich beim Kartenspiel zusammen und tauschen Erinnerungen an ihre Zeit bei der jugoslawischen Armee aus. Man spürt es sofort: Der Klub ist für sie so etwas wie ein zweites Zuhause, wo sie stets willkommen sind.
Im „Klub“ für die alten Roma im Stadtteil Topaana in Skopje / Norbert Rütsche, n-ost
Doch nicht nur für sie, auch für ihre Kinder und Kindeskinder ist der Klub eine wichtige Institution. „Unsere Eltern waren ungebildet und schauten nur darauf, dass wir arbeiteten“, erzählt der 70-jährige Mefail Selim nachdenklich. Viele hätten aber nun ihre Lektion aus der eigenen Lebensgeschichte gelernt und wollten für ihre Kinder und Enkel eine möglichst gute Ausbildung, ergänzt Baki Redzepov (67). „Schule ist doch die einzige Perspektive. Auch den Kindern, die zu uns in den Klub kommen, sagen wir: Die Schule ist Eure Zukunft!“
Zwei Mal in der Woche besuchen Kinder aus dem Viertel den Klub und malen, töpfern, schnitzen oder tanzen unter Anleitung der alten Roma. Für Fatma Bajram ist dieser Kontakt zwischen den Generationen außerhalb der Familien von großer Bedeutung. Die 31-Jährige ist Gründerin und Leiterin der Roma-Selbsthilfeorganisation „Sumnal“, die auch für die „Klub“-Aktivitäten verantwortlich ist. „Die Kinder müssen immer wieder darin bestätigt werden, wie wichtig es ist, in die Schule zu gehen und diese auch abzuschließen.“ Viele bekämen diese Bestätigung zu Hause nicht. „Wenn sieben Leute aus drei oder vier Generationen in einem Raum zusammenleben, was bei uns häufig vorkommt, führt dies oft zu Konflikten. Da bleibt die Schule außen vor.“
Die horrende Arbeitslosenquote im Roma-Viertel von etwa 90 Prozent verschärft die Probleme noch zusätzlich. Die meisten Bewohner halten sich mit einer minimalen Sozialhilfe und mit dem Erlös aus dem Sammeln von Kartons, PET-Flaschen, Alu oder Eisen über Wasser. Mit dem Recycling kann eine Familie jedoch gerade mal 30 bis 40 Euro pro Woche verdienen. Der Kauf von Schulbüchern wird so für viele Familien zum Problem.
Fatma Bajram bei der Hausaufgaben-Betreuung von „Sumnal“ / Norbert Rütsche, n-ost
Der Schwerpunkt der Aktivitäten von „Sumnal“ liegt in der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen auf dem Weg zu einer möglichst guten Ausbildung. Dazu bietet die NGO in ihren einfachen Räumlichkeiten im Zentrum von Topaana jeden Tag Hausaufgaben-Betreuung an und stellt auch Schulmaterial zur Verfügung. „Sumnal“-Mitarbeiter Elez Bislim hat einst selbst davon profitiert: „Meine Eltern können kaum lesen und schreiben, deshalb konnten sie mir bei den Hausaufgaben nicht helfen.“
Um in der öffentlichen Schule eine Chance zu haben, müssen die Kinder so früh wie möglich Mazedonisch lernen. In den Familien sprechen fast alle in ihrer Muttersprache Romanes. Deshalb lädt „Sumnal“ zum Vorschul-Unterricht, wo die Kleinsten spielerisch an die mazedonische Sprache herangeführt werden und gleichzeitig wichtige Regeln für Hygiene und Gesundheit lernen – spielerisch, indem sie zum Beispiel voller Inbrunst ein Lied zum Thema Händewaschen singen.Fatma Bajram strahlt, wenn sie in die Gesichter ihrer kleinen Schützlinge schaut. „Ich will, dass jedes Kind in die Schule geht – nicht nur auf die Grundschule, sondern auch aufs Gymnasium und an die Fakultät. Damit es in Zukunft mehr Roma in Führungspositionen gibt.“ Sie selbst ist das beste Beispiel dafür, dass dies zu schaffen sei und dass Vorurteile und Diskriminierungen, mit denen Roma häufig konfrontiert seien, überwunden werden können: Fatma Bajram hat Pädagogik studiert und arbeitet heute im mazedonischen Kulturministerium. Doch ihr Herz schlägt vor allem für „Sumnal“ und ihr Stadtviertel Topaana.