Moldawien

Junge Roma zwischen Karriere und Kränkung

„Du schmutziger, dunkler Zigeuner, du sitzt da ohne Stift und Heft in der hintersten Schulbank, geh nach Hause!“, ruft Victorina Luca. Sie will den Schüler provozieren, doch der entgegnet gelassen: „Ich bin genauso wie Sie. Wenn Sie mich weiter beleidigen, gehe ich zum Direktor.“ Victorina Luca lächelt. „Bravo“, sagt sie und verteilt zusätzlich zum Lob noch ein Geleebonbon. Mit Rollenspielen will die Studentin, selbst eine Roma, das Selbstbewusstsein der Kinder in der Sonntagsschule stärken. Die 21-Jährige studiert im dritten Semester Jura. Heute hat sie sieben Kinder aus der Nachbarschaft zur wöchentlichen Sonntagsschule versammelt – im Haus ihrer Tante. Klaus, eine Handpuppe mit sonnengelbem Haar und in karierter Latzhose, begrüßt die vier Mädchen und drei Jungen.

Die Jungen sind später gekommen, weil sie ihren Müttern noch helfen mussten, Waren aus dem Dorf Bacioi auf den Markt von Chişinău zu bringen. Die Hauptstadt der Republik Moldau liegt eine Stunde entfernt von ihrem Dorf.Klaus erzählt von Jerry, seinem Freund, der die Schule schwänzt, raucht, stiehlt, in den Tag hineinlebt und ins Gefängnis kommt. Jerry wird als Farbiger in Amerika diskriminiert. Die Kinder hören zu. Amerika ist weit weg. Doch dieses Amerika, in dem Jerry lebt, ist ganz nah. Fast alle Besucher der Sonntagsschule kommen aus Roma-Familien.



Unterricht in der Sonntagsschule mit Hilfe von Klaus, einer Handpuppe / Christine Karmann, n-ost

Victorina Luca stärkt das Selbstbewusstsein und die Motivation der Kinder mit Rollenspielen. Sie sollen nicht heulen und nicht die Schule abbrechen, wenn sie beleidigt werden, sondern zum Direktor gehen und sich beschweren. Früher hat Victorina Luca auch in der Schule geweint. „Erst, weil ich gehänselt wurde, und dann vor Scham bei meiner Oma, als sie herausfand, dass ich ihr monatelang erfundene Märchen über einen Hasen erzähle und gar nicht lesen kann.“ Die Großmutter organisierte einen Privatlehrer, keinen Rom, einen Moldauer, und die Enkelin lernte schnell die Buchstaben, die richtige Intonation. Victorina Lucas Schullehrerin half ihr bei den Hausaufgaben.Bis zur neunten Klasse. Dann aber schlug die Oma ihr vor, Köchin zu werden. Wieder fand Victorina Luca Hilfe, diesmal bei Klaus.

So heißt die Handpuppe in der Sonntagsschule, und so möchte Victorina Luca später ihren Sohn nennen. Klaus hieß aber auch der Mann von der „Little Samaritan Mission“, der ihr das Lyzeum bezahlt hat. Ohne das Schulgeld säße Victorina Luca wahrscheinlich nicht in der Sonntagsschule, sondern stünde in einer Küche. So aber wurde aus dem Mädchen, das bis zum sechsten Lebensjahr mit der Mutter in Moskau gebettelt hatte, eine Abiturientin.

Den Teufelskreis aus fehlender Ausbildung, Arbeitslosigkeit und Armut können nur wenige Roma durchbrechen. Jeder fünfte Roma in Moldau ist Analphabet, nur vier von 100 machen das Abitur, so die Zahlen des United Nations Development Program (UNDP). Unter den Moldauern insgesamt sind es 38 Prozent.Rund 20 Regierungsvertreter, Experten und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen der Roma haben jüngst im staatlichen Büro der innerethnischen Beziehungen diskutiert, wie dies zu ändern ist.

Dort liegt der Aktionsplan zur Unterstützung der Roma in Moldau für die Jahre 2007 bis 2010. Im Saal des Gebäudes hängen Bilder von Moldau: Weinberge, Weizenfelder,  dörfliche Idylle. Der Durchschnittsrom in Moldau ist laut UNDP-Statistik arbeitslos, kann weder lesen noch schreiben, lebt ohne Strom- und Gasversorgung und hofft beim staatlichen Landvergabeprogramm auf ein Stück Maisfeld.Armen Aurel Bantea ist kein Durchschnittsrom. Der 20-Jährige spielt gern Schach im Internet, er nennt sich dann „Gipsy“, das englische Wort für Zigeuner. „Den Namen hab ich mir selbst ausgesucht. Ich benutze ihn schon seit vier Jahren“, erzählt er. Viele Spieler fragen nach der Partie, warum sich Bantea „Gipsy“ nenne. Wenn Bantea dann berichtet, dass er zu den Roma gehöre, muss er sich manchmal einen neuen Gegner suchen. „Viele brechen die Verbindung ab. Sie schreiben, sie können mir nicht mehr trauen.“



Armen Bantea (rechts) ist stolz auf seine Herkunft und studiert dank eines Stipendiums / Christine Karmann, n-ost


Davon lässt sich Armen Bantea nicht einschüchtern. Er ist stolz auf seine Herkunft. „Mein Opa war besonders geschickt in Metallarbeiten, hat Eggen für Kolchosen repariert und ist in der Sowjetunion mit Pferd und Wagen herumgezogen.“ Sein Vater besuchte acht Schulklassen, seine Mutter fünf, die Schwester lernt in der zehnten Klasse. Bantea studiert seit 2005 Jura an der Staatlichen Universität in Chisinau. Als Schwerpunkt hat er Zivilrecht gewählt, er will seine Rechte kennen und Staatsanwalt werden. Manche Dozenten staunen, wenn sie ihn sehen: Sie schauen in sein Gesicht und fragen, ob er Zigeuner sei. Mehr Diskriminierung existiert nicht in Banteas Universitätslaufbahn, mehr staatliche Unterstützung allerdings auch nicht.

Armen Bantea finanziert sein Studium mit einem Stipendium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Diese deutsche Stiftung unterstützt humanitäres Engagement für die Opfer des Nationalsozialismus und ihre Nachfahren, dazu zählen unter anderen die Roma in Moldau. Bantea hat im September 1200 Euro bekommen; die Hälfte aber ist schon weg, nachdem er die Studiengebühren bezahlt hat. Wie Armen Bantea ist auch Victorina Luca, die Lehrerin in der Sonntagsschule, eine von 80 Stipendiaten aus Russland, der Ukraine und Moldau. Weil die Stiftung besonderes Engagement würdigt, bekommt Victorina 300 Euro zusätzlich zum Stipendium.

Victorina hat bei der Versammlung im staatlichen Büro der innerethnischen Beziehungen ihr neuestes Projekt vorgestellt: Sie will mit staatlicher Hilfe Koordinatoren einsetzten, die zwischen Eltern, Kindern, Lehrern und Direktoren vermitteln und sicherstellen, dass die Schüler den Unterricht nicht schwänzen. Viel Unterstützung bekam sie dabei noch nicht. „Es war wie immer“, sagt sie. Dennoch will sie sich nicht entmutigen lassen. „Ich werde das Projekt weiter entwickeln, ins Ministerium gehen und eine Partnerschaft abschließen.“

Victorina Luca ist ehrgeizig, will für ein Jahr in den USA studieren. Sie hat die Zukunft schon durchgeplant – Berufsziel: Anwältin. „Anwältin wollte ich schon werden, bevor ich wusste, dass es den Beruf gibt“, erzählt sie. „Mir tat es immer leid, wenn jemand bestohlen wurde. Ich habe mir dann ausgedacht, wie ich diesem Menschen helfen kann.“Mit 27 möchte Victorina ihr Studium beendet haben, um dann in einer internationalen Organisation zu arbeiten. „Dann will ich mein eigenes Business gründen und mit 30 Millionärin sein. Mit dem Geld will ich ein Rehabilitationszentrum gründen. Jeder soll ein neues Leben beginnen können“, erzählt Victorina Luca. Freitagabends geht sie zum Englischsprachkurs. Die Unterstützung dafür hat sie erneut durch die Stiftung erhalten – nachdem sie sich selbst darum beworben hatte.


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