Ein Land am Rande des Bankrotts
Im Stundentakt haut der russische Energiekonzern Gazprom derzeit die Pressemitteilungen heraus. Exportvorstand Alexander Medwedjew beruhigt verstörte Kunden und Diplomaten, Chef-Sprecher Sergej Kuprijanow trichtert russischen und internationalen Medien die russische Sicht des Gasstreits ein. Und Vorstandschef Alexej Miller knöpft sich seine ukrainischen Schuldner höchstpersönlich vor.
Seit dem letzten russisch-ukrainischen Gasstreit vor drei Jahren hat die Führung des russischen Staatskonzerns Gazprom einiges dazugelernt: Statt den Gashahn vor laufenden Kameras abzudrehen und damit in Europa Zweifel an der Zuverlässigkeit russischer Gaslieferungen zu nähren, gingen die Russen diesmal sensibel vor – und spielten mit offenen Karten. Da deutsche Energieversorger wie E.On Ruhrgas und Wintershall von Gazprom seit Wochen über deren Zoff um die Schulden des ukrainischen Abnehmers Naftogas informiert sind, hatten sie genügend Zeit ihre riesigen Speicher zu füllen.
Jetzt sind die Ukrainer die Buhmänner – das ist das Verdienst von Gazprom-Chef Miller und seiner raffinierten Kommunikationsstrategie. Die Ukrainer haben wochenlang und bis zuletzt ihre Schulden für russische Gaslieferungen nicht vollständig bezahlt. Derweil warnte Gazprom immer wieder, man werde den Nachbarn zum Neujahrstag die Rohre abdrehen und fürs neue Jahr keinen Vertrag abschließen. Die Ukrainer spielten auf Zeit, spekulierten auf Schützenhilfe aus Brüssel – und verzockten sich. Selbst schuld, kommentiert man deshalb nun in Moskau.
Doch so einfach ist das nicht. Die ukrainische Regierung und der von ihr kontrollierte Versorger Naftogas stundete die Moskauer Gasrechnungen nicht aus politischem Widerwillen. Sie konnten nicht bezahlen, weil sie kurz vor der Pleite standen – und zwar nicht nur der Energiekonzern Naftogas, sondern das ganze Land.
Die Ukraine steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Herstellung von Stahl, des wichtigsten Exportguts des Landes, wurde bereits um ein Viertel zurückgefahren. Die Devisenreserven schrumpfen, Inflation und Arbeitslosigkeit steigen. Den Unternehmen brechen nicht nur Gewinne, sondern auch Umsätze in empfindlichem Maße weg. Viele Firmen gingen in den vergangenen Wochen dazu über, die Energierechnung erst einmal nicht zu begleichen. Zumal Versorger Naftogas zuletzt nicht für kompromissloses Inkasso bekannt war. Nicht einmal die Preiserhöhungen der Russen hatte der Konzern vollständig an die Kunden weitergegeben – und stand folglich mehrfach vor der Pleite.
Jetzt kann ihm nicht einmal der Staat helfen. Selbst wenn der Gasstreit – wie es sich zwei Tage vor Silvester abgezeichnet hatte – gelöst worden wäre: Naftogas hätte Schulden machen müssen, um den Schuldenberg bei Gazprom abtragen zu können. Das macht deutlich, wie arg das gesamte Land von der Finanzkrise gebeutelt ist: Weder der Staat noch in dessen Besitz stehende Unternehmen verfügen über finanzielle Reserven, um allein Verpflichtungen aus laufenden Verträgen wie dem zwischen Gazprom und Naftogas erfüllen zu können. Der Staat ist beinahe zahlungsunfähig, der Internationale Währungsfonds musste bereits einen Notkredit von 16,4 Milliarden Dollar gewähren.
Dabei bekam die Ukraine ihr Gas im vorigen Jahr noch relativ günstig. Während Westeuropa im Schnitt gut 400 Dollar pro tausend Kubikmeter zahlte, musste Naftogas laut Vertrag nur knapp 179,50 Dollar berappen. Die Verträge für das Jahr 2009 sahen die Anhebung des Gaspreises auf 250 Dollar vor. Jetzt hat Gazprom-Chef Alexej Miller einen Gaspreis in Höhe von 450 Dollar angeboten – ein höherer Preis als ihn europäische Versorger in diesem Jahr zahlen.Kiew steckt in einer ausweglosen Situation: Selbst wenn man sich auf einen von Moskau subventionierten Gaspreis von 250 Dollar einigen würde – das Land könnte die Rechnungen angesichts der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise trotzdem kaum bezahlen.
Jetzt hofft die Regierung in Kiew auf Druck aus dem Westen. Auf offiziellem Wege hat der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko die Europäische Union um Vermittlung gebeten – wohl wissend, dass die neue tschechische Ratspräsidentschaft den Ukrainern gegenüber freundlich gestimmt ist. Die EU möchte am liebsten aus dem Gasstreit herausgehalten werden, schließlich hängt der Kontinent an den Rohren desselben Energielieferanten – Gazprom.