Freiwilligendienste gegen Vorurteile
Ein Freiwilligenaustausch junger Roma und Nicht-Roma hilft Stereotypen abzubauen
(n-ost) - Als Judit Lakatos vor zweieinhalb Jahren ins Flugzeug nach Deutschland stieg, konnte sie kein Wort Deutsch. Nur ein Zettel mit den wichtigsten Sätzen sollte ihr helfen, gut in Eisenach anzukommen. „Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich bin zum ersten Mal geflogen“, erinnert sich die junge Frau aus der Ukraine. Ihr eigentliches Ziel hieß Mulfingen, eine kleine Gemeinde in der Nähe von Heilbronn. Dort würde sie ein Jahr lang als Freiwillige in der St. Josefspflege arbeiten.Obwohl das Diakonische Werk Württemberg jedes Jahr etwa 40 ausländische Freiwillige an verschiedene soziale Einrichtungen im Land vermittelt, war die ukrainische Romni Judit Lakatos ein Sonderfall. „Wir verlangen Grundkenntnisse der deutschen Sprache“, sagt Ines Römpp, die bei der Diakonie die ausländischen Freiwilligen betreut. Dies wäre für Judit Lakatos aber ein KO-Kriterium gewesen. In ihrem Heimatort Gat hatte sie nur fünf Jahre lang die Schule besucht, neben ihrer Muttersprache Ungarisch beherrschte sie keine Fremdsprachen.
Die Ukrainerin Judit Lakatos möchte sich für junge Roma engagieren. Foto: Jutta Blume
Judit Lakatos war die erste, die im Rahmen des „Roma-Gadje-Dialogs“ ein Freiwilliges Soziales Jahr in Mulfingen absolvierte. Das Programm ist dazu gedacht, bei der Freiwilligenarbeit gegenseitige Vorurteile von Roma und Nicht-Roma (auf Romanes „Gadje“) abzubauen. So arbeiten die Gadje überwiegend in Roma-Bildungseinrichtungen in Osteuropa, während osteuropäische Roma in sozialen und ökologischen Projekten in Westeuropa mitarbeiten.Ines Römpp war von Anfang an von dem Projekt begeistert: „Meine Aufgabe war es, Einsatzstellen für junge Roma auch mit geringen Sprachkenntnissen zu finden.“ Momentan kann die Diakonie Württemberg drei solche Plätze vergeben. Europaweit gibt es derzeit 35 Freiwilligenstellen. Unterkunft und Verpflegung stellen dabei die jeweiligen Einrichtungen, Fahrtkosten, Seminare und Versicherungen der Freiwilligen werden durch das EU-Programm „Youth in Action“ getragen. Mittel für die Projektkoordination kommen von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.Die Idee zum Roma-Gadje-Dialog entstand bei einem Treffen von kirchlichen Freiwilligendiensten im März 2003 in Budapest. „Wir haben entschieden, dass es auch für junge Roma die Möglichkeit zu Freiwilligendiensten geben müsse“, erzählt der Projektinitiator John Stringham. Der Kanadier war schon einige Jahre zuvor durch neu gegründete Gemeinden in Transkarpatien in der westlichen Ukraine gereist und hatte dort die Armut vieler Roma kennen gelernt.In diese Region, darunter in Judit Lakatos’ Heimatdorf Gat, konnten auch zuerst Freiwillige entsandt werden. Bis ein echter Dialog entstand, dauerte es jedoch einige Zeit. „Wir haben festgestellt, dass Freiwillige ohne Begleitung die Vorurteile der einheimischen Bevölkerung gegen die Roma übernommen haben.“ So sind heute drei gemeinsame Seminare der Roma- und Gadje-Freiwilligen wesentlicher Bestandteil des Programms. Und auch bei der Verteilung der Plätze herrscht inzwischen ein ausgeglichenes Verhältnis.
Die Schule von Gat, Judits Heimatort in der Ukraine, wird von "Gadje"-Freiwilligen unterstützt. Foto: Antje Lehmann
Judit Lakatos erwartete nach ihrer Ankunft in Deutschland zunächst das Einstiegsseminar, wo sie sich zunächst auf Ungarisch verständigen konnte. Nicht nur junge Roma und Nicht-Roma hatten dort die Chance, sich gegenseitig kennen zu lernen, sondern auch Roma aus unterschiedlichen Ländern und mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund. „Ich habe in den Seminaren gelernt, was die Roma-Kultur ist“, erzählt Lakatos. „Roma helfen sich immer gegenseitig. Und ich könnte zu Hause niemals alleine essen.“
„Wir wollen, dass die jungen Roma Stolz auf ihre Identität als Kulturvolk entwickeln, und die Bereitschaft, auch dafür einzustehen“, sagt John Stringham. In den meisten osteuropäischen Ländern ist Diskriminierung alltäglich. In vielen Familien wird seit zwei Generationen kein Romanes mehr gesprochen, und auch in die Schulen hält die Sprache der Roma nur sehr langsam und regional begrenzt wieder Einzug. Weder Judit Lakatos noch ihr Nachfolger in der St. Josefspflege, Joszef Kolompar, haben zu Hause Romanes gelernt.Die Diskriminierung äußert sich nicht nur darin, dass die Sprache lange unterdrückt wurde. Vorurteile ziehen sich oft quer durch die Gesellschaft und sind schon von kleinen Kindern zu hören. Im Gegenzug haben Roma eigene Stereotypen der Nicht-Roma entwickelt. „Diese sind ein Schutz vor der Gadje-Gesellschaft“, erklärt Stringham.„Früher habe ich gelernt, die Deutschen wären Nazis“, berichtet Judit Lakatos von ganz speziellen Vorurteilen. Die Geschichte hat in der Ukraine schmerzhafte Spuren hinterlassen, wie in ganz Europa wurden Roma in Konzentrationslager deportiert. Und auch an Judits Arbeitsplatz in Mulfingen ist die Geschichte des Völkermordes präsent. Im Kinderheim der St. Josefspflege dienten Sintikinder als Forschungsobjekte für eine „rassenhygienische“ Doktorarbeit. Nach Abschluss der Arbeit im Jahr 1944 wurden die 39 Kinder nach Auschwitz deportiert. Nur vier von ihnen überlebten.Für Joszef Kolompar war es interessant, sich während seines Freiwilligendienstes mit der Geschichte der Verfolgung auseinanderzusetzen. So besuchte er das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg und nahm an einer Fahrt nach Auschwitz teil. Sorgen bereiten ihm seit einiger Zeit Übergriffe gegen Roma in Ungarn. Die Angst vor Nazis war es auch, die ihn als Jugendlichen bewegte, von Debrecen nach Budapest zu ziehen. In Debrecen wurde er auf dem Schulweg von Skinheads bedroht, in der Hauptstadt fühlte er sich dann sicherer.In Deutschland haben die beiden Freiwilligen glücklicherweise keine Diskriminierung erlebt. Problematisch war für sie anfangs nur die zurückhaltende Art der Deutschen. Doch inzwischen haben sich beide gut eingelebt und möchten gerne noch länger bleiben. Judit Lakatos wohnt jetzt seit über zwei Jahren in Deutschland. An den Freiwilligendienst in Mulfingen schloss sie ein Au-Pair-Jahr bei einer Familie in Leonberg an, bei dem Judit ihr Deutsch verbessern wollte. Zurzeit absolviert sie das reguläre Freiwillige Soziale Jahr in einer Behindertenwerkstatt in Ingelfingen.Joszef Kolompar entschied sich hingegen, in Deutschland eine Ausbildung zu beginnen. In Waldhausen bei Stuttgart macht er gerade ein Vorpraktikum in der Behindertenbetreuung. Für den 30-jährigen ist es ganz klar, dass er in Deutschland leben möchte. Zwar besaß er in Ungarn bereits eine abgeschlossene Ausbildung, aber: „In Budapest hatte ich kein Privatleben, weil ich immer gearbeitet habe“.Judit Lakatos weiß noch nicht genau, was sie nach ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr tun wird. „Ich möchte in Zukunft mit Roma arbeiten“, sagt sie. Gerne würde sie Jugendlichen mehr Selbstständigkeit vermitteln. Sie selbst hat im Roma-Gadje-Dialog gelernt, ganz alleine zu Seminaren in unbekannte Länder zu reisen. Das möchte sie gerne weitergeben. „Wir können eigentlich nicht ohne Mama und Papa wegfahren“, scherzen die beiden Freiwilligen über ihre eigene Kultur.
Viele Bewohner des ukrainischen Dorfes Gat leben in Armut. Foto: Antje Lehmann
Zurück nach Gat möchte die fast 25-jährige Judit aber nicht. „Wie die Roma dort leben, ist für mich zu schwer.“ Das Leben in ihrem Dorf ist mit bitterer Armut verbunden. Viele Roma wurden nach der Wende arbeitslos, die Osterweiterung der EU erschwert nun zudem den Arbeitsweg nach Westen. Um wenige Kilometer weiter in Ungarn zu arbeiten, brauchen die ungarischsprachigen Roma ein Visum. Vielen fehlt es heute am Nötigsten: an ausreichendem Wohnraum wie auch an sauberem Trinkwasser.Für John Stringham ist es ganz normal, dass sich die jungen Leute nach ihrem Auslandsaufenthalt neu orientieren. „Es wäre eine krasse Diskriminierung zu sagen, sie müssten zurück in ihre Heimat gehen.“ Er glaubt aber fest, dass sie sich in Zukunft in der einen oder anderen Weise für das Gemeinwesen der Roma engagieren werden – egal wo.Jutta Blume
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