Die Zwickmühlen südosteuropäischer Identität
Mit dem Krieg im Kaukasus um die Macht in Südossetien und Abchasien im Sommer 2008 hat sich die Beziehung zwischen Russland und Europa grundlegend verändert. Eine geografische Abgrenzung der beiden Einflusssphären schält sich immer deutlicher heraus, eine klare Trennung in „Ost“ und „West“ tritt wieder zutage. Andererseits haben die Kriegsfolgen kaum Auswirkung auf den Konflikt um Transnistrien. Dieser ist ebenso wie der Krieg im Kaukasus ein Ergebnis des Zerfalls der Sowjetunion. Transnistrien ist Teil der Republik Moldau, zwischen Rumänien und der Ukraine gelegen. Der Landstrich, kleiner als Luxemburg, strebt nach Unabhängigkeit oder zumindest nach der Einbeziehung in die Russische Föderation.
In seinem Buch über die „Konstruktion von Nation und Staat in Osteuropa“ beleuchtet der Journalist Andreas Menn am Beispiel der Anfang der 90er Jahre entstandenen Republik Moldau einen der interessantesten Fälle der Nationenbildung in Osteuropa auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR. Moldau, dessen Grenzen am Prut im Westen und östlich des Dnjestr liegen, wurde 1812 dem russischen Imperium zugeschlagen und 1918 – nach einem kurzen Intermezzo als unabhängiger Staat – vor dem Hintergrund einer drohenden ukrainischen Invasion mit Rumänien vereinigt.
Unwillig, diesen Verlust zu akzeptieren, gründete die Sowjetunion daraufhin einen eigenen „moldauer“ Landkreis. Ein kleiner Teil davon ist das heutige Transnistrien. Innerhalb der ukrainischen Sowjetrepublik hatte Transnistrien das Ziel, in Konkurrenz mit Rumänien um das Land westlich des Dnjestr zu treten. Nach der erneuten Annexion Moldaus 1944 durch die Russen wurde aus dem Landkreis eine Sowjetrepublik, die 1991 schließlich ihre Unabhängigkeit erklärte.Warum Moldau trotz der gemeinsamen Sprache – überwiegend Rumänisch – und einer zum Teil gemeinsamen kulturellen Entwicklungsgeschichte sich dennoch Anfang der 1990er Jahre nicht mit Rumänien vereinigte und warum der Konflikt um Transnistrien ausbrach, ist eines der Themen, die der kurze Text von Menn behandelt.
Die Stärke des Buches liegt dabei ganz klar in der komprimierten Form der Nachzeichnung der historischen Entwicklungen und der jüngsten Vergangenheit in deutscher Sprache.Transnistrien ist in diesem Panorama nur einer von vielen Aspekten, den man jedoch ohne Kenntnisse der moldauer Geschichte nicht verstehen kann. Das Scheitern der ersten Unabhängigkeit 1918 begründet der Autor damit, dass „ein großer Teil der Intelligenz (…) sich nicht für eine nationale, sondern für eine soziale Revolution“ interessierte. Mit Bezug auf den Titel des Buches vermutet Menn weiter, dass Moldau ohne Transnistrien genau 90 Jahre später, 17 Jahre seit der zweiten Unabhängigkeit, heute eine weniger feste nationale Identität herausgebildet hat, als dies für Transnistrien alleine angenommen wird.
Menn gelingt es, die vielfältigen Zwickmühlen der national-ethnischen Bewegungen sowohl für die betroffenen Moldauer und die anderen in dem Land lebenden ethnischen Minderheiten, als auch für die sowjetischen Machthaber in Moskau bis hin zur heute regierenden kommunistischen Regierung in der moldauer Hauptstadt Chişinău aufzuzeigen. Es wird deutlich, dass keine der beteiligten Gruppen mit ihren teils völlig verschiedenen Interpretationen darüber, wer die Moldauer sind und was die Russen oder Rumänen mit dem Land gemacht haben, in der Lage ist, ihren ständigen Widerspruch zur Realität aufzulösen.
Leider ist Menns Text über weite Strecken etwas zu harmlos; über das wiederholte Nennen verschiedener Politikwissenschaftler und die Anwendung ihrer Theorien zur Nationenbildung auf den moldauer Fall ist die eigene wertende Stimme des Autors fast nicht wahrnehmbar. Der Versuch, wiederholt das historische Fürstentum Moldawien prominent als direkten Vorläufer der heutigen Republik Moldau darzustellen, ungeachtet der Tatsache, dass diese deutlich weniger als die Hälfte des mittelalterlichen Staatsgebietes umfasst und Transnistrien niemals ein Teil davon war, führt in die Irre.
Ebenso ist auch der fast synonymartige Gebrauch von moldauer und rumänischer Sprache falsch. Wenn der Autor angibt, dass dies de facto ein und dieselbe Sprache ist, und die Absurditäten einer künstlichen Unterscheidung aufzeigt, sollte er nicht gleichzeitig seine eigene Argumentation dadurch in Frage stellen, dass er immer wieder unreflektiert von einer „moldauer“ Sprache spricht.
Ebenso häufig fällt die Vielzahl recht vager Formulierungen ins Gewicht, deren Gehalt nicht bestätigt werden kann. So ist zum Beispiel bei der Behauptung „1991 setzte die Moldauer Staatsuniversität die Seminare in russischer Sprache und Literatur komplett ab.“ nicht klar, was damit gemeint ist: Das Unterrichtsangebot für russische Muttersprachler wurde damals weiterhin auf russisch gelehrt, russische Sprache und Literatur wurden weiterhin unterrichtet und zwar auch in russischer Sprache für Gruppen rumänischsprachiger Studenten.
Ebenso schwammig sind Darstellungen der Sowjetzeit, wie beispielsweise die Ansicht, dass „auf dem Land…sich ein Kommunikations- und Lernsystem [erhielt], in das das Russische kaum eindringen konnte“. Aufgrund der totalen Übermacht der russischen Sprache in allen Sphären der damaligen Gesellschaft, den Medien und dem Bildungsbereich ist dies mit Sicherheit falsch. Eigene Nachforschungen und ein kritischerer Umgang mit den zitierten Quellen wären da wünschenswert gewesen. Warum Rumänien Anfang der 90er Jahre gegen eine Vereinigung war und heute ist, wäre davon abgesehen ein zusätzlich zu betrachtender Aspekt gewesen.
Diese ungenauen Formulierungen sollen jedoch wichtige Einsichten aus dem Text nicht mindern. Andreas Menns Buch ist eine gelungene Einführung zu einem allgemein wenig bekannten Fall der osteuropäischen Völkergeschichte. Die Tatsache, dass der Anteil der ethnischen Moldauer an der Gesamtbevölkerung Moldaus seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute kontinuierlich ansteigt, macht es wahrscheinlich, dass die Konstruktion des moldauer Staats und der moldauer Nation in Zukunft mehr als je zuvor in den Händen der betroffenen Menschen selber liegen wird.
Andreas Menn - „Konstruktion von Nation und Staat in Osteuropa.“ VDM Verlag, Saarbrücken 2008