Griechenland

Neue Hoffnung für den Sozialismus / Interview mit Alexis Tsipras

Herr Tsipras, glauben Sie, dass die politische und soziale Agenda genügt und es einen ausreichenden Willen gibt, um Veränderungen in der griechischen Gesellschaft zu schaffen?

Das, was wir gerade erleben, ist eine soziale Explosion. Es ist das Resultat der sozialen und wirtschaftlichen Krise. All diese Ansammlungen von Unrecht, Armut, Korruption, der Abbau des Sozialstaates, waren leicht zur Explosion zu bringen. Diese Explosion wird nicht in den Städten enden, sie wird von der Arbeitslosigkeit gefolgt, der 700-Euro-Generation, den Landwirten, den Angestellten im Privatsektor und all denen, die die Konsequenzen der neoliberalen Politiken der letzten 20 Jahre spüren.

Welche ist die Rolle der Opposition bei den Protesten? Glauben Sie, dass dieser Moment der richtige ist für eine Mobilisierung des linken Flügels?

Wir sind diejenige Oppositionspartei, die die tiefen Gründe dieser Unruhe am ehesten verstanden hat. Wir kämpfen für eine soziale Mobilisierung, die die konservative Regierung entfernen und den Weg öffnen wird für eine linke Regierung, die der neoliberalen Politik ein Ende setzen wird.

Was halten Sie von der Gewalt und den Plünderungen? Stellen diese eine richtige Antwort dar auf die Arroganz des Staates?

Wir wurden von der Regierung und anderen beschuldigt, dass wir die Gewaltakte nicht verurteilt haben. Unsere Position zu Gewaltakten ist schon seit Jahren klar. Wir waren die einzige Partei, die über eine soziale Explosion gesprochen hat und nicht nur über den „Mob“, die „Hooligans“ und die „Extremisten“. Ich glaube, dass die übrigen Parteien bald mit großen Überraschungen konfrontiert werden.

Wird die Regierung mehr Gewalt anwenden, wenn die Proteste weitergehen?

Das müssen Sie die Regierung fragen. Falls jedoch die Mobilisierung der Menschen massiv ist, wird sie zweimal darüber nachdenken.

Es gab Gerüchte über einen möglichen Einsatz der Armee während der großen Ausschreitungen. Glauben Sie, dass dies möglich wäre?

Auf keinen Fall. Ich glaube, es war nur Teil eines billigen Propagandaspiels.

Sehen Sie die Ausschreitungen nur aus einer lokalen Perspektive oder glauben Sie, dass sie Teil der globalen Wirtschaftskrise und eines wachsenden Unmuts in anderen europäischen Ländern sind?

Ich glaube, dass der erste Sieg der griechischen Bewegung in Frankreich stattgefunden hat. Sarkozy wagte es nicht, die Schülerbewegung unter solchen Bedingungen zu provozieren und hat die geplante Bildungsreform in Frankreich vorläufig verschoben.

Die Proteste in Griechenland gehen weiter. Am Mittwoch haben Jugendliche ein Protestplakat auf der Akropolis aufgestellt. Einen Tag zuvor haben sie ein Studio des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders NET besetzt und das Programm unterbrochen. Wie weit sollen die Demonstranten gehen? Wo ist die ethische Grenze?

Die ethische Grenze liegt bei einer großen Veränderung, die die Erwartungen und die Bedürfnisse der Jugend und derjenigen, die unter der Politik der letzten Jahre gelitten haben, berücksichtigen wird. Die mobilisierten Kräfte sind sich bewusst, dass eine Lösung nicht möglich ist, solange diese Regierung an der Macht ist.

Wo sehen Sie eine Lösung im globalen Sinne?

Diejenigen, die den neoliberalen Konsens geschaffen haben, müssen zusammen mit ihrer Politik verschwinden. Die Welt braucht eine radikale Veränderung. Die neoliberale Politik hat ihre Grenzen gezeigt. Der Sozialismus, zusammen mit der Demokratie und der Freiheit, kommt als die neue Hoffnung der Menschen auf. Europa ist ein Platz mit großer sozialistischer Tradition und wir müssen wieder zu ihr zurückkehren. Ich glaube, dass wir zusammen mit der Partei der Europäischen Linken Europa verändern können. Gleichzeitig schauen wir mit großem Interesse auf das, was in Lateinamerika passiert.

Sie sind 33 Jahre alt und irgendwie ein Teil dieser Generation, die gerade protestiert. Mussten Sie auch Privatunterricht nehmen, um an einer Universität studieren zu können? Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem griechischen Bildungssystem?

Ja, ich habe persönlich unter denselben Bedingungen gelebt, die die Mehrheit der Griechen erleben. Ich musste Privatunterricht nehmen und habe lange ohne Versicherung gearbeitet. Diese Situation muss aber zu einem Ende kommen. Die jungen Menschen können sie nicht mehr ertragen.


Weitere Artikel