Know-How im Koffer
Dimitrij Gurau zeigt stolz auf dem kleinen Bildschirm seines Mobiletelefons die Fotos einer Marmorfassade. Es ist der Arbeitsauftrag, den er zuletzt beendet hat, zusammen mit seinen Mitarbeitern, einem Albaner und zwei Griechen. Der 45-jährige Moldauer hat in seiner Heimat Geographie, Geologie und Biologie studiert und war angestellt im Geografischen Institut der Moldauischen Akademie der Wissenschaften.
In den vergangenen neun Jahren arbeitete Gurau in Athen jedoch als Marmorarbeiter und Fliesenleger. „Es ist eine kreative Arbeit“, sagt Dimitrij, so als wollte er rechtfertigen, dass er nun nicht mehr als Wissenschaftler arbeitet. „In meiner Heimat habe ich mich mit Steinen beschäftigt, mit Steinen beschäftige ich mich auch hier!“ Es sei schließlich keine Arbeit für einen Ungelernten. Man könne diese Arbeit nicht machen, wenn man nicht bestimmte Kenntnisse hat.
Dimitrij wirkt viel älter als 45 Jahre. Seine Haare sind grau. Falten ziehen sich durch sein schmales Gesicht. Es ist ihm anzusehen, dass er vielen Strapazen ausgesetzt war.Der Zugang zum griechischen Arbeitsmarkt war nicht einfach für ihn. Innerhalb von zehn Jahren ist er dreimal zu Fuß von der Republik Moldau nach Griechenland gelaufen. Über die nördliche Grenze mit der Ehemaligen Jugoslawischen Republik von Mazedonien (FYROM) sei er illegal nach Griechenland eingereist, erzählt er. Er tut es mit der Überzeugung eines Menschen, der weiß, dass er die Hände nicht in den Schoß legen darf, bloß weil es an einem Punkt im Leben nicht weiter geht. „Warum hat mich der Sowjetstaat zum Studieren gebracht?“, fragt er. „Damit ich den Himmel schaue und erkennen kann wo der Norden und wo der Süden ist. Damit ich meinen Weg finde“, sagt er und lacht sarkastisch.
Wegen der schwierigen Wirtschaftslage in Moldau musste er das Land verlassen, um für seine Frau und die zwei Kinder zu sorgen und ein Haus für die Familie bauen zu können. Heute besitzt er die nötigen Aufenthaltspapiere und ist legal in Griechenland beschäftigt. Seine Heimat nimmt am stark globalisierten Arbeitsmarkt teil, indem es billige Arbeitskräfte exportiert. Experten rechnen damit, dass über 25 Prozent der Moldauer im arbeitsfähigen Alter im Ausland leben. Das Land gilt als das ärmste Europas. „Ich war in Griechenland keinen einzigen Tag arbeitslos“, sagt Dimitrij. „Ich musste nie zum griechischen Arbeitsamt und nie meine Diplome vorzeigen. Ich kenne ein Netzwerk von Menschen, die ich anrufe, wenn ich Arbeit brauche.“
Statistischen Angaben des Arbeitsinstituts des Allgemeinen Griechischen Gewerkschaftsbundes (INE/GSEE) zufolge ist der Anteil der Immigranten aus Osteuropa, die arbeitslos sind, sehr gering – gut zehn Prozent. Die anderen sind legal oder illegal beschäftigt. Unter ihnen befinden sich viele, die ein hohes Bildungsniveau besitzen. Von den Arbeitnehmern aus der Republik Moldau haben über 36 Prozent einen hohen Bildungsabschluss. Unter den Ukrainern sind es sogar über 45 Prozent.
„Das Bildungsniveau der Immigranten aus Osteuropa ist fast das gleiche wie das der Griechen“, sagt Apostolis Kapsalis, Migrationsexperte beim Arbeitsinstitut des Allgemeinen Griechischen Gewerkschaftsbundes INE/GSEE. Allerdings haben nur sehr wenige von ihnen eine Arbeitsstelle, die ihrem Bildungsniveau entspricht. „Fast 90 Prozent von ihnen arbeiten ausschließlich in den fünf Bereichen, in denen es eine Nachfrage an Arbeitskräften gibt: in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, im Haushalt, im Gewerbe und im Tourismus“, erläutert Kapsalis. Die größten Hindernisse auf dem Weg zu einem adäquaten Job sind Sprachbarrieren, die große Bürokratie und die Wartezeit, bis Abschlüsse in Griechenland anerkannt werden. „Die Anerkennung gibt es auch nur für bestimmte Berufe wie Arzt, Architekt, Anwalt“, so Kapsalis. „Der Prozess ist nicht einfach. In fast der Hälfte der Studienfächer werden die Absolventen erneut geprüft. Die meisten Immigranten verfügen aber über magere Sprachkenntnisse oder haben gar keine Aufenthaltspapiere, und deswegen ist es besonders schwierig“, betont er.
Aber auch wenn jemand diese Barriere überwunden hat, ist der Wettbewerb auf dem griechischen Arbeitsmarkt zu groß, um Raum für qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland zu lassen. Laut den Daten der Europäischen Kommission aus dem Jahre 2007 hat Griechenland im EU-Vergleich die größte Anzahl von arbeitslosen Hochschulabsolventen.
Diese Erfahrung hat auch Dimitrij Gurau gemacht: „Es gibt zu viele junge Griechen, die ein Diplom haben und arbeitslos sind. Es gibt keinen Grund, die Diplome von Leuten in meinem Alter anerkennen zu lassen“, sagt er. Es ist auch Pragmatismus, der in Dimitrij Guraus Worten mitschwingt. So ist er mit seiner jetzigen Tätigkeit zufrieden. Er denkt nicht einmal daran, wieder nach Moldau zurückzukehren und seine alte Arbeitsstelle in der Akademie der Wissenschaften anzunehmen. „Ich könnte es tun, aber ich glaube, ich will es nicht mehr. Wenn man eine Arbeit macht, die gut läuft und die die Leute respektieren, dann reicht es.“Ob dies auch einem Europa reicht, das hochqualifizierte Arbeitskräfte sucht, ist fraglich.
Für Immigranten wie Dimitrij wäre es eine große Chance, die blaue EU-Arbeitskarte (Blue Card) zu bekommen, auf deren Ausstellung die EU-Länder sich im Oktober geeinigt haben. Damit soll Europa für hochqualifizierte Arbeitskräfte attraktiv gemacht werden. Jedoch nicht für alle. „Die europäischen Länder werden auswählen, welche Arbeitskraft sie brauchen und für wie lange“, sagt Kapsalis von INE/GSEE. Der Migrationsexperte sieht die griechische Migrationspolitik kritisch: „Es gibt eine klare politische Linie: Je weniger Rechte man den Leuten zuerkennt, desto weniger werden sie verlangen. Dasselbe gilt auch für die Kinder der Immigranten, obwohl sie in Griechenland geboren sind.“
Bis jetzt hatten die Immigranten in Griechenland wenige Chancen auf eine staatliche Unterstützung für Umschulung oder Weiterbildung. Der Staat hat nur Programme für das Erlernen der griechischen Sprache im Angebot. „Ab dem kommenden Jahr werden die Arbeitsmigranten die Möglichkeit haben, durch das Integrationsprogramm ESTIA ihre Kenntnisse anerkennen zu lassen und besser in den griechischen Arbeitsmarkt integriert zu werden“, erklärt Alexandros Zavos, Leiter des Instituts für Immigrationspolitik und Berater der griechischen Regierung in Migrationsthemen. „Es handelt sich um die Anerkennung der Fertigkeiten der Immigranten und zielt unter anderem auf ihre bessere Teilnahme am Sozialversicherungssystem ab“, so Zavos.
Dimitrij macht sich jedoch keine Gedanken mehr darüber, wie er mit seinem Bildungsabschluss im europäischen Arbeitsmarkt Fuß fassen könnte. Ihm genügt, dass er mit seinem jetzigen Job in Griechenland seine Familie ernähren kann. Die Befriedigung seiner intellektuellen Ansprüche hat er in die Freizeit verlagert. Er liest Bücher und Beiträge über Geschichte. Und denkt über die Zukunft seiner Kinder nach. Seine 19-jährige Tochter studiert Veterinärmedizin in den USA und sein 14-jähriger Sohn lebt mit seiner Frau in Chisinau und besucht dort die Schule. „Ich könnte meinen Sohn hierher bringen. Aber ich glaube, bei uns ist das Bildungssystem ein bisschen besser als in Griechenland. Hier kann man lange überlegen, ob man studiert oder nicht. Dort schnappen die dich gleich nach dem Abitur. Das ist es, was aus dem sowjetischen Regime übrig geblieben ist.“