Vom Wunderkind zum Sorgenkind
Tiefe Rezession in Lettland - trotz Rettungspaket fordern 10.000 Letten in einer Online-Petition den Anschluss ihres Landes an Schweden
(n-ost) - Ginge es nach Roberts Safonovs, dann wäre die Wiederholung der schwedischen Okkupation wohl das Beste, was Lettland zurzeit passieren könnte. Im späten Mittelalter hatte Schweden große Teile des Baltikums und Skandinaviens seinem Reich einverleibt, was für das Baltikum mit einem Quantensprung an wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung einherging. In einer Onlinepetition auf der Webseite petitiononline.com wirbt Safonovs, Online-Essayist des Politikportals politika.lv, nun für die erneute Angliederung Lettlands an das schwedische Reich. Auch wenn die Petition kaum ernst gemeint ist. Sie illustriert den wachsenden Unmut der lettischen Bevölkerung über den Kurs der eigenen Regierung.Lettland galt lange Zeit als Wirtschaftswunder der Europäischen Union. Mit Wirtschaftswachstumsraten von weit über zehn Prozent stand es lange Zeit an der Spitze. Während Wirtschaftsanalysten immer wieder auf die Gefahren der überhitzten Wirtschaft und auf die extrem hohe Inflation im Lande hinwiesen, machte sich in den Jahren des Wirtschaftswachstums kaum ein Lette ernsthaft Sorgen über eine mögliche Rezession.
Obdachloser in Riga. Foto: Thorsten Pohlmann
Nun ist Lettland zum wirtschaftlichen Sorgenkind der EU geworden. Im Sog der Immobilienkrise haben die Preise auf dem lettischen Immobilienmarkt innerhalb eines Jahres 50 Prozent an Wert verloren. Eine Situation, von der auch der Finanzsektor stark betroffen ist. Beide Bereiche haben die fragile Wirtschaft des Landes in ihre Mitleidenschaft gezogen.Erst im November hat die lettische Regierung die zweitgrößte Bank Lettlands, die Parex Bank in einer Nacht- und Nebelaktion verstaatlichen müssen, da ein Kollaps des Finanzunternehmens unmittelbar bevorstand. Unklar ist heute immer noch, in welchem Umfang die Parex-Banka von der Finanzkrise betroffen ist und wie schwer die staatlichen Garantien gegenüber der Bank den Staatshaushalt belasten werden. Die Regierung verweigert jeden Kommentar und die Einsicht in die Bücher des Finanzunternehmens.Die Turbulenzen an den Finanzmärkten haben Lettlands Bürger verunsichert. Sie bangen um ihre Bankeinlagen. Wie die lettische Finanz- und Kapitalmarktaufsicht ermittelte, wurden den Banken im Oktober gut 461 Millionen Lat (knapp 650 Millionen Euro) an Kapitaleinlagen entzogen. Dies entspricht gut 4,6 Prozent der Gesamtdepositeneinlagen der Banken.Gut drei Viertel der Bürger bezeichnen ihre eigene wirtschaftliche Situation als schlecht. Das geht aus einer Umfrage der DnB Nordbank zur Wirtschaftslage hervor. Acht Prozent der Befragten geben an, mit der Arbeit der Regierung unzufrieden zu sein. Wie das lettische Arbeitsamt mitteilt, stieg die offizielle Arbeitslosenrate im November gegenüber dem Vormonat um einen halben Prozentpunkt auf 6,1 Prozent an.Die Sorgen der Bürger über das schlechte Wirtschaftsklima sind begründet. Im dritten Quartal dieses Jahres trat Lettland offiziell in eine Rezession. Das Bruttoinlandsprodukt des baltischen Staates schrumpfte um 6,4 Prozentpunkte im Vergleich zum gleichen Quartal im Vorjahr. Laut dem Europäischen Statistikamt in Luxemburg verbuchte Lettland im Oktober dieses Jahres mit 14,4 Prozentpunkten den stärksten Rückgang des Handelsumsatzes innerhalb der Europäischen Union.Die Auswirkungen der wirtschaftlichen Rezession bedrohen nun auch die Konsolidierung des lettischen Staatshaushaltes und treiben das Staatsdefizit für das laufende und das kommende Haushaltsjahr in die Höhe. Nach einer fast 19 Stunden andauernden Marathonsitzung verabschiedete das lettische Parlament in der vergangenen Woche ein Rettungspaket. Damit wurde der bereits beschlossene Haushaltsplan für 2009 geändert.Die Haushaltsnachträge sehen massive finanzielle Kürzungen in Höhe von knapp 1,3 Milliarden Euro vor. Die Regierung versucht damit, das Staatsdefizit für das laufende Haushaltsjahr zu begrenzen. Die Nachträge sind Teil eines Konsolidierungsprogramms und gelten als Voraussetzung für die Hilfe aus dem Internationalen Währungsfonds.
Obdachlose und Bettler prägen immer stärker das Bild in lettischen Städten. Foto: Thorsten Pohlmann
Sowohl die skandinavischen und baltischen Länder als auch die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds haben Lettland unter Auflagen Finanzhilfen zugesagt, wobei die Hilfsbereitschaft von Litauen und Estland eher symbolischen Charakter hat. Beide Länder sind selbst von der Krise betroffen. Erst vergangene Woche sagte der estländische Finanzminister der Nachrichtenagentur Bloomberg, dass sein Land wahrscheinlich schon in naher Zukunft auf die Hilfe des IWF angewiesen sein wird.Bereits jetzt steht fest, dass die Sparmaßnahmen der Regierung in Riga kaum realisiert werden können, ohne dass sie nachhaltig die Wettbewerbsfähigkeit des Landes belasten. Trotz der massiven Einschnitte prognostiziert die Regierung für das Jahr 2009 ein Haushaltsdefizit von 5,9 Prozentpunkten des Bruttoinlandsprodukts. Somit droht ihr erneut eine Rüge seitens der Europäischen Union. Bereits Anfang dieses Jahres überbrachte der Unionspräsident José Manuel Barroso während seines Besuchs in Lettland mahnende Worte zur wirtschaftlichen Situation des Landes.Wie Finanzminister Atis Slakteris derweil einräumt, ist in den inoffiziellen Gesprächen mit Vertretern des Internationalen Währungsfonds auch die Möglichkeit einer Abwertung des extrem starken Lat besprochen worden. Die lettische Währung ist seit der Euro-Anwartschaft Lettlands mit einem festen Wechselkurs von 0.702804 Lat an den Euro gebunden. In der Vergangenheit haben Spekulationen über eine mögliche Abwertung der nationalen Währung zu extremen Exzessen an den baltischen Finanzmärkten geführt. Der Mittelstand schließt inzwischen einen Großteil seiner Konsumkredite und Hypotheken in Euro oder Dollar ab.
Armut und Obdachlosigkeit bestimmen zunehmend den Alltag. Foto: Thorsten Pohlmann
Derweil richten sich die Bürger Lettlands auf schwierige Zeiten ein. Die Mehrwertsteuer wird am 1. Januar 2009 von 18 auf 21 Prozent angehoben, der reduzierte Mehrwertsteuersatz von 5 auf 10 Prozentpunkte verdoppelt. Die Gruppe der Produkte, auf die ein reduzierter Mehrwertsteuersatz zutrifft, wird verkleinert. Erhöht werden außerdem die Steuern auf alkoholische und nichtalkoholische Getränke und Benzin. Am stärksten gilt das für Kaffee. Sein Steuersatz wird von 70 Euro auf 140 Euro per 100 Kilogramm verdoppelt. Die Steuererhöhungen bedrohen aber das bereits stark belastete Wirtschaftsklima zusätzlich, denn sie sind das Gegenteil von neuen Handelsimpulsen für den Binnenmarkt.Für die vielen bereits in bitterer Armut lebenden Familien gibt es kaum funktionierende Sozialsysteme, auf die sie zurückgreifen können. Die Umstände, in denen sie leben, sind oft erbärmlich. Da wird die von Safonov geforderte Angliederung an das reiche und stabile Schweden als eine Fata Morgana wahrgenommen. Sie findet regen Zuspruch in der lettischen Bevölkerung: Rund 10.200 Letten haben die Petition bis Dienstagmorgen unterschrieben.Die Petition ist mehr als ein Appell an die lettische Regierung: In ihr kommt der ungeheure Lebensmut der Letten zum Ausdruck. In einer beinahe aussichtslosen Situation versuchen sie, sich mit Witz und Charme über Wasser zu halten. Da verwundert auch die Bemerkung einer älteren Dame nicht, die gerade in der Zeitung das Rettungspaket der Regierung studierte: „Fünf Jahrzehnte der Fremdherrschaft haben uns nicht untergekriegt, da werden wir diese Finanzkrise wohl auch noch überleben.“
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