Solschenizyns russische Seele
Wie eine Leuchtfigur stand er einst mit seinem Werk „Archipel Gulag” an der Spitze der sowjetischen Opposition. Den ihm 1970 verliehenen Literaturnobelpreis konnte er erst nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion 1974 annehmen. Solschenizyn erfuhr den Terror Stalins am eigenen Leib. Er wurde kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges von der Front weg verhaftet, wie so viele damals ohne nennenswerte Gründe.Die Erfahrungen im Gulag hat er in seinem Buch „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch” verarbeitet. Diese Beschreibung eines Arbeitstages im Gulag konnte erst in der Zeit des „Tauwetters” der 1960-er Jahre unter Chruschtschow erscheinen und sorgte auch im Westen für Furore. Einer kurzen Phase der inneren Öffnung seines Heimatlandes folgte die Rückkehr zur Repression, doch Solschenizyn wollte sich dem Druck dieses Systems nicht beugen.Dabei halfen ihm vor allem seine internationale Bekanntheit und die Unterstützung westlicher Persönlichkeiten wie Heinrich Böll.
Denn eine Person der Öffentlichkeit konnte man auch in der Sowjetunion nicht so einfach mundtod machen. Als Alternative blieb den Sowjets nur die Ausweisung. Nach dieser konnte Solschenizyn seine geretteten Manuskripte des „Archipel Gulag” im Ausland veröffentlichen. Fiktive Zeugenberichte dokumentieren darin auf mehreren hundert Seiten die Grausamkeiten des Systems. Doch war Solschenizyn nicht der einzige, der den Gulag literarisch verarbeitete.Einst totgeschwiegene Schriftsteller wie Wasili Grossman oder Warlam Schalamow wurden erst in den vergangenen Jahren wieder neu entdeckt. Sie hatten – anders als Solscheniyzn – keine westliche Lobby hinter sich. Gerade Schalamows nüchterne Beschreibungen des Gulag bringen Solschenizyns „Archipel“ in die Kritik.
Denn indem Solschenizyn den Gulag mit seinem literarischen Können ästhetisiert habe, verfälsche er Geschichte, so die Kritik.Darf Literatur das? Solschenizyn bejahte es und versuchte sich damit in die Tradition der klassischen russischen Literatur zu stellen. Nicht umsonst zitierte er in seiner Nobelpreisrede 1970 Dostojewski mit „Die Schönheit wird die Welt erlösen”. Er meinte damit, dass die Kunst ihr Prüfmaß in sich selbst trage und das „Wahre und Gute“ in ihr als Gegenentwürfe zur grausamen Realität einen Ausweg aus dieser zeigen können.Westeuropa und die Vereinigten Staaten waren bis 1994 für zwei Jahrzehnte die Zuflucht Solschenizyns, doch waren sie ihm nie eine Heimat. Kritik bekam denn auch nicht nur die Sowjetunion, sondern auch der Westen zu spüren.
Seine Botschaften und Reden wirkten meist befremdlich, deshalb verlor der Literat sein Ansehen auch jenseits der Heimat. Nachdem Russland sich aus den „Ketten des Kommunismus”, wie der Dichter es einst nannte, befreit hatte, wähnte sich der rehabilitierte Schriftsteller angesichts der katastrophalen Zustände der Transformationszeit in der Rolle, seinem Land einen Ausweg zeigen zu müssen. Er tat dies 1990 mit seinem Aufsatz „Russlands Weg aus der Krise”, der eine millionenfache Auflage in großen russischen Zeitungen hatte. Doch damit verschreckte er Russland. Denn da sprach jemand, der den Anschein erweckte, einem vergangenen Jahrhundert entsprungen zu sein.Solschenizyns geistigen Hintergrund bestimmte vor allem die russische Kultur- und Religionsphilosophie des 19. Jahrhunderts.
So genannte „Slawophile” wie Alexander Chomjakow und Iwan Kireevski versuchten als Antwort auf das nationale Erwachen in Europa zu definieren, was die Russen eigentlich sind. Bereits damals erwies es sich als schwierig, die russische Seele zu ergründen.Für die Slawophilen war es vor allem die Orthodoxie, die die Grundlage des russischen Denkens bildete und es damit von der westlichen Aufklärung abgrenzen sollte. So wurden krasse Gegensätze erdacht, um die Sonderrolle des russischen Volkes herauszustellen. Während der Westen in einer gefühllosen Wüste geistig zerstreuter Individuen lebe, erfreue sich das russische Volk einer geistigen Einheit, mit einem von Gottes Gnaden fürsorglich regierenden Zaren.
Spinnt man dieses Gedankennetz weiter, lässt sich gar die Autokratie als einzig logische Regierungsform des Landes darstellen.Marxismus und Leninismus verdrängten diese Ideen im 20. Jahrhundert, auslöschen konnten sie diese jedoch nicht. Von den russischen Religionsphilosophen erlangten Wladimir Solowjew und Nikolai Berdjaew auch im Westen Bekanntheit, letzterer schrieb mit dem „Neuen Mittelalter” im Berliner Exil einen Bestseller, der den Faschismus heraufziehen sah. Wie ein dünner Faden spannte sich diese russische Philosophie an der Sowjetideologie vorbei zu Solschenizyn hin. Somit ist es nicht verwunderlich, dass er immer wieder zur Rückbesinnung auf christlich-orthodoxe Werte aufrief.Oft wurde Solschenizyn deshalb als „Neo-Slawophiler” bezeichnet.
Viele russische Exilanten beschimpften ihn in den 80er Jahren mit den Worten Jefin Etkinds als „russischen Ajatollah”. Und nicht nur den Westen befremdete seine Kritik an der Demokratie. Dasselbe widerfuhr dem Schriftsteller im noch jungen Russland der Wendezeit, das sich im Rausch der Freiheit von Wort und Markt wähnte. Diesem folgte ein schlimmer Kater.Die negativen Erfahrungen der 90er Jahre unter Jelzin – eine schwache Demokratie gepaart mit verheerender Misswirtschaft – sorgten für eine unerwartete Renaissance des Schriftstellers im Land. So behaupten heute viele gar, dass Solschenizyn das geistige Spiegelbild von Putins „Demokratur“ darstelle. Zumal Putin immer wieder die medienwirksame Nähe zu Solschenizyn suchte.
Putin tat das nicht von Ungefähr und betonte immer wieder, dass Solschenizyn für die Struktur des heutigen Russlands wesentliche Anreize gegeben habe. Es scheint, als wurde der altersschwache Literat instrumentalisiert, um einen autokratischen Staat moralisch zu legitimieren.Die gesunde Grundlage Russlands bildete in Solschenizyns Augen ein paternalistischer Staat, der die großen Belange seiner Bürger väterlich in die Hand nimmt. Dem gegenüber müsse den Bürgern auf Gemeindeebene weitgehende Selbstverwaltung eingeräumt werden.
Nur eine moralische Gesundung aus der Provinz heraus und nicht das sittenlose Moskau könne Russland retten. Das Land müsse sich seiner selbst besinnen, es dürfe nicht dem Westen erliegen, der mit seiner demokratischen Gleichmacherei die Völker der Erde jeder Eigenart beraube.Russland den Russen? Hier würde man dem Schriftsteller Unrecht tun, denn Solschenizyn zeigte sich Zeit seines Lebens als Missionar eines gemäßigten Nationalismus. Dieser propagierte nicht das russische Blut, sondern die russische Kulturnation. Für Solschenizyn war der Patriotismus kein Gefühl des Hochmuts, sondern er fordere vielmehr dazu auf, sich mit den dunklen Kapiteln der Geschichte seines Landes auseinanderzusetzen. Doch gerade dies – die Gräuel des Stalin-Terrors, die Solschenizyns „Archipel” anprangert – geraten im heutigen Russland immer mehr in Vergessenheit.