Tänzerin hinter Stacheldraht auf Berliner Bühne
dokumentartheater berlin zeigt das Schicksal Ukrainischer Zwangsarbeiter(n-ost) – Ihr Tanz wirkt wie ein Wehklagen ohne Worte. Schnelle, abrupte Bewegungen unterbrechen die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen. Sie trägt ein leichtes weißes Sommerkleid. Ihr gegenüber sitzen KZ-Häftlinge – erschöpfte junge Menschen, ausgemergelt und ausgehungert. Alla Rakitsjanskaja ist die Tänzerin hinter Stacheldraht.
Das Schicksal einer ukrainischen Zwangsarbeiterin im "dokumentartheater berlin". Foto: Andrej Skakodub
60 Jahre später sitzt Alla selbst im Publikum. Sie sieht die junge Alla tanzen. Es ist das „dokumentartheater berlin“, das das Schicksal der „Tänzerin hinter Stacheldraht“ auf die Bühne gebracht hat. Als „Sprachrohr aller Zwangsarbeiter des Zweiten Weltkrieges und der Nazidiktatur“ bezeichnet Ensemble-Mitglied Momo Kohlschmidt das Projekt, das durch einen Zufall entstanden ist.Das „dokumtartheater berlin“ wurde vor fünf Jahren mit der Aufführung „Die Ost-Arbeiterin“ gegründet. Begonnen hatte alles jedoch bereits vor zehn Jahren. Regisseurin Marina Schubarth erinnert sich: „Damals war ich in Kiew zu Dreharbeiten und lernte eine alte Ukrainerin kennen, die als Ost-Arbeiterin ins Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt worden war.“ Die Ukrainerin bat den Gast aus Deutschland, ihr bei der Suche nach den Dokumenten zu helfen, die ihre Zwangsarbeiterschaft belegen. Sie waren für die Zahlung der Entschädigung erforderlich. Schubarth: „Ich versprach ihr, mein Bestes zu tun.“Marina stammt aus einer ukrainischen Partisanenfamilie, hatte sich aber bis zu der Begegnung mit der Ost-Arbeiterin nie mit dem Thema Zwangsarbeit beschäftigt. Ihr Versprechen, der alten Frau zu helfen, änderte dies. „Es war der Beginn einer Lawine“, sagt Schubarth. Nach den ersten Aufführungen bekam sie tausende Briefe mit Schilderungen leidvoller Schicksale. „Ich musste mich entscheiden: helfen oder wegrennen. Meine Finanzen erlaubten es mir nicht, all diesen alten, bedürftigen Menschen zu helfen. Trotzdem entschied ich mich, nicht wegzulaufen und suchte nach Wegen der Unterstützung.“
Zitternd vor Kälte und schauernd vor Angst tanzt Alla Rakitsjanskaja vor Häftlingen. Foto: Andrej SkakodubMarina Schubarth nahm Kontakt zu Firmen in Deutschland und Österreich auf und versuchte, diese zu Auskünften über ihre ehemaligen Zwangsarbeiter zu bewegen. Ohne Erfolg. „Dabei war das Schicksal der Ost-Arbeiter besonders hart. Denn wer aus der UdSSR stammte, hatte in der Nazi-Hierarchie einen noch niedrigeren Status als Zwangsarbeiter anderer Nationen. Davon war in der öffentlichen Debatte über die Zwangsarbeiter in Deutschland fast nie die Rede“, erklärt Marina empört.Den Willen, diesen Menschen die Hand zu reichen, hat Marina trotz der fehlenden Unterstützung in Deutschland und Österreich nie aufgeben. Durch einen Zufall lernte sie den Berliner Stadtplaner Dietmar Arnold kennen. Er erforscht den Berliner Untergrund und entdeckte während seiner Forschungsarbeiten im Gesundbrunnen einen Untergrundbunker, der von ehemaligen Zwangsarbeitern gebauten worden war. In einem anderen Berliner Bunker fanden er und seine Kollegen eine Kartei mit Daten der Zwangsarbeiter. Als Marina davon erfuhr, schlug sie ihm vor, eine öffentlichkeitswirksame Kunstaktion im Bunker zu starten.Sie schafften es kürzester Zeit, das Theaterstück „Ost-Arbeiter“ im Bunker zu inszenieren. Immer mehr Menschen wollten das Stück sehen. „Dabei sollte es eigentlich eine einmalige Aktion sein“, erzählt Marina und ihre Augen strahlen. „Die Schauspieler waren aber so zusammengewachsen, keiner wollte sich trennen. Außerdem erstaunte uns der Erfolg.“ Die Spenden, die durch die Aufführungen eingesammelt wurden, verteilte das Ensemble an ehemalige Zwangsarbeiter.Das war die Geburtsstunde des „dokumentartheaters berlin“, das bis heute im Bunker Gesundbrunnen seine Aufführungen zeigt und inzwischen Preisträger mehrerer internationaler Preise ist. Zum Theaterensemble gehören 30 junge Menschen aus über 14 Nationen. Die meisten von ihnen sind Laien, die Marina ehrenamtlich ausbildet. Das Ensemble reist durch die Welt und kämpft gegen das Vergessen. Es war in Spanien, Belarus, Armenien – und zuletzt in der Ukraine, in der Magiljanski-Kunstakademie Kiew, mit der Aufführung „Tänzerin hinter Stacheldraht“.Das Drehbuch für das Stück hat Regisseurin Marina Schubarth gemeinsam mit der ehemaligen Tänzerin Alla Rakitsjanskaja geschrieben. Schließlich konnte sie so deren Schicksal am authentischsten erzählen. „Wenn ich vor diesen Menschen tanzte, so standen mir oft die Tränen in den Augen“, erzählt Alla Rakitsjanskaja. „Vor mir saßen hungrige, von unzumutbar schwerer Arbeit erschöpfte junge Menschen und schauten mir nun beim Tanzen zu. Ich zitterte vor Kälte, ein Kloß drohte mir den Hals zuzuschnüren. Hätte ich mich geweigert, dann wäre ich in ein KZ gekommen“, erzählt die 77 Jahre alte, kränkliche Frau heute. Das Sprechen fällt ihr schwer.
Das Ensemble des „dokumentartheaters berlin“ - hauptsächlich Laien, die von Regisseurin Marina Schubarth ehrenamtlich ausgebildet werden. Foto: Andrej Skakodub
Alla war gerade einmal 16 Jahre alt geworden, als sie zum Tanzen hinter Stacheldraht gezwungen wurde. „Man pferchte uns in die Viehwaggons zur Fahrt nach Deutschland. In einem Vorort Berlins – in Weißensee – warteten hunderte Menschen darauf, dass man sie zur Sklavenarbeit in die Fabriken abholt. Wir mussten in Holzbaracken leben. Es war entsetzlich kalt dort.“Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Alla ins Ensemble der Roten Armee in Berlin übernommen. Ihre Rückkehr in die Sowjetunion endete mit ihrer Verhaftung durch den Geheimdienst NKWD. Wegen Vaterlandsverrates verurteilte man sie zu 25 Jahren Haft im Arbeitslager. „Meinen letzten Auftritt als Tänzerin hatte ich in diesem Lager in Sibirien. Meine Fersen waren da bereits fast abgefroren.“
Des Vaterlandsverrates angeklagt, kam Alla Rakitsjanskaja in ein sowjetisches Arbeitslager. Foto: Andrej SkakodubDas Kiewer Publikum – Zwangsarbeiter, Lehrer, Politiker, Akademiker und Schriftsteller – schaut nachdenklich, ja reglos zu. „Es ist nicht möglich, diese Aufführung ohne Tränen zu sehen“, sagt Alexandra Georgevna. Sie war sechs Jahre alt, als ihre Mutter mit drei Kindern ins Konzentrationslager Soldau verschleppt wurde. „Wir haben alles erlebt: Hunger, Kälte, Krankheit, Angst.“Dennoch habe sie es gelernt, glücklich zu sein, sagt Alexandra Georgevna und zählt ihre Kinder und Enkelkinder namentlich auf. „Ich habe mir erfüllt, was ich mir damals in den Baracken versprochen hatte: Ich werde leben!“ Georgevna sitzt aufrecht und stolz, als sie hinzufügt: „Unsere Generation stirbt, aber die Erinnerung muss weiterleben. Das hat das dokumentartheater berlin für uns übernommen.“
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