"Ein europäischer Russe" / Interview zu Iwan Turgenew
Iwan Turgenjew ist einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, des Goldenen Zeitalters der russischen Literatur. Der Sohn der russischer Adliger aus der Provinz erlebte in seiner Kindheit unmittelbar die Grausamkeiten mit, die seine Mutter, eine Gutbesitzerin, gegen ihre Leibeigenen verübte. Schon als Jugendlicher schwor er sich, bis zum Ende seines Lebens für die Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland zu kämpfen.Zunächst studierte der junge Turgenjew jedoch Philologie in Sankt-Petersburg, später Philosophie in Berlin. Etwa zehn Jahre lebte er in Deutschland, das er seine "zweite Heimat" nannte, und schließlich in Frankreich, wo er 1883 starb.
In seinen Erzählungen und Romanen beschrieb Turgenjew das schwere Leben und Leiden der russischen Leibeigenen, aber auch das Leben russischer Adliger, der Intelligenz und der russischen Immigranten in Europa. In der Erzählung "Mumu" (1854) zum Beispiel verbietet die Gutbesitzerin, deren Prototyp vermutlich seine Mutter ist, einem taubstummen Leibeigenen zu heiraten, später zwingt sie ihn, seinen Hund zu ertränken. In der Erzählung "Asja",(1858), die in Deutschland spielt, erzählt der Autor von einer unglücklichen Liebe.
Turgenjews Roman "Väter und Söhne" (1862) halten viele Literaturwissenschaftler und Historiker für die Prophezeiung der weiteren Entwicklung Russlands: Die Hauptperson dieses Romans ist ein Symbol der revolutionären Ideen, die Russland mehrere Jahrzehnte erzittern ließen. In seinem Roman "Der Rauch" (1867) denkt Turgenjew über den Weg nach, den Russland gehen müsse.Turgenjew liebte seine russische Heimat sehr. Dennoch war er liberal und glaubte daran, dass Russland den gleichen Weg wie Europa einschlagen sollte: Wenn Russland sich Europa annähern würde, dann wäre die Heimat gerettet, war Turgenjew überzeugt. Er stand mit dieser Position nicht allein. Ein großer Teil der russischen Intelligenz, die so genannten Westler, teilten seine Ideen.Ihnen gegenüber standen die Panslawisten, die überzeugt waren, Russland müsse seinen eigenen Weg gehen und die in der Europäisierung eine Gefahr sahen. In 1920er Jahren übernahmen die Eurasier - eine von russischen Immigranten gebildete neue Strömung - die Ideen der Panslawisten und entwickelten sie weiter. Die Eurasier waren überzeugt, Russland wäre nur durch die Einheit aller seiner Völker zu retten. Der ideologische Kampf zwischen Westlern und Panslawisten/Eurasiern dauert in Russland bis heute an.
Der Literaturwissenschaftler Rainer Goldt ist Dozent am Slawistik-Instiut der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz / Vougar Aslanov, n-ost
ostpol: Herr Goldt, welchen Platz hat Iwan Turgenjew in der russischen Literatur? Welches Verhältnis hatte er zu anderen russischen Schriftstellern und wer hat ihn am stärksten beeinflusst?
Goldt: Ich sehe Turgenjews Rang vor allem durch zwei Momente begründet. Für die russische Literatur erreichte er eine bis dahin einzigartige Tiefe psychologischer Prosa und hob sie auf das Niveau eines Flauberts. Gerade auch kleinere, dokumentarische Skizzen wie "Die Hinrichtung Tropmanns" offenbaren diese Meisterschaft. Zweitens öffnete er Europa die Augen für sein Land und seine Kultur. Wenn Sie nach den unmittelbaren Vorbildern Turgenjews fragen, so wird seine Herkunft aus der Romantik deutlich - als junger Mann befand er sich im Banne Byrons, aber auch Puschkin und Lermontow hat er viel zu verdanken. Vergessen wir aber auch nicht, dass er seinen berühmtesten Roman "Väter und Söhne" dem Andenken des Literaturkritikers und Hegelianers Wissarion Belinskij widmete.
Sie sind auch mit russischer Geistesgeschichte und russischer Philosophie vertraut. Wie spiegeln sich die Ideen der russischen Denker und Philosophen in den Werken Turgenjews wider?
Goldt: Auf den ersten Blick ist man natürlich geneigt, Turgenjews philosophische Inspiration eher in Europa zu suchen. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass er sich in Berlin, damaligen akademischen Moden folgend, in den Kreisen deutscher und russischer Hegelianer bewegte. Weit weniger nimmt man den späteren Schopenhauer-Verehrer Turgenjew zur Kenntnis, obwohl sich diese Lektüre als nachhaltiger erwies. Was Russland anbetrifft, so stand er sicherlich manchen Gedanken Pjotr Tschaadajews nahe. Wichtiger noch waren in ästhetischer und sogar weltanschaulicher Hinsicht seine Freundschaften mit russischen Malern und Bildhauern seiner Zeit - Iwanow, Antokolskij, Wereschtschagin. Turgenjew, ein Künstler des Auges, war gewiss derjenige russische Autor des 19. Jahrhunderts, der die Malerei seiner Zeit am intensivsten verfolgte.
Welchen Einfluss hatte Ihrer Ansicht nach die deutsche Philosophie und Literatur auf Turgenjew? Welche Motive in seinen Werken sind unmittelbar mit Deutschland verbunden?
Goldt: Gewiss kannte und schätzte Turgenjew die deutsche Literatur, namentlich Goethe. Er war Storm, Heyse und Auerbach und Adolf Menzel persönlich verbunden, doch seine unmittelbaren literarischen Vorbilder sehe ich eher in Frankreich. Sie sehen dies ja auch in seinen Werken: Gewiss bieten "Assja" oder "Frühlingsfluten" deutsches Lokalkolorit, aber zeigen Sie mir einen komplexen, individuellen deutschen Charakter in seinen Werken! Darum bleibt für mich ein philosophisches Werk, nämlich Schopenhauers "Welt als Wille und Vorstellung", dasjenige deutsche Buch, dem Turgenjew am meisten zu verdanken hat.
Sind Sie mit der geläufigen Meinung der literaturwissenschaftlichen Kreise Russlands einverstanden, dass Turgenjew der erste russische Schriftsteller war, den man auch in Europa kannte?
Goldt: Wenn Sie damit ein breiteres Publikum im Auge haben, so gebe ich Ihnen völlig Recht. Ohne Turgenjew hätten weder Tolstoj noch Dostojewskij in Europa so rasch die ihnen gebührende Aufmerksamkeit gefunden, davon bin ich überzeugt. Nennen Sie mir einen russischen Autor seiner Epoche, der zu Lebzeiten mit einer fast abgeschlossenen zwölfbändigen Werkausgabe in deutscher Übersetzung präsent war (der letzte Band erschien ein Jahr nach seinem Tod). Dostojewskij etwa hat keinen einzigen seiner Romane in deutscher Übersetzung gesehen! Wir würden allerdings dem deutschen Interesse an russischer Literatur ein ungerechtes Zeugnis ausstellen, unterschlügen wir etwa die Ausgaben der Werke Puschkins, die es seit den 1840er Jahren gab, die aber bei weitem nicht diese Resonanz erfuhren.
Turgenjew nennt man oft einen realistischen Schriftsteller, obwohl er zwischen der romantischen und der realistischen Epoche der russischen Literatur erschien. Ist sein Realismus nur damit verbunden, dass er das wirkliche und schwierige Leben der russischen Bauern, die unter der Leibeigenschaft litten, zu zeigen versuchte, jedoch trotzdem zu romantischen und sogar mystischen Methoden neigte oder er ist wirklich ein realistischer Schriftsteller?
Goldt: Turgenjews Ruf als Realist fußt vor allem auf seinen großen Gesellschaftsromanen. In seiner kleinen Prosa zeigt er ein ganz anderes Gesicht: als klassischer Novellist, aber auch als der Phantastik, mitunter in Gogolscher Manier dem Grotesken verpflichteter Erbe der Romantik. Der vielgestaltige Stilist Turgenjew ist noch immer unerschlossen, und auch er hätte eine Swetlana Geier verdient, die wie im Falle Dostojewskijs den Sprachvirtuosen sichtbar machen würde.
1881 töteten russische Radikale Zar Alexander II. In den 1880er Jahren verbreiteten sich im Land marxistische Ideen, die später zur Revolution der Bolschewiki führten. Turgenjew warf man vor, durch seine Werke die Verbreitung revolutionärer Ideen unterstützt zu haben. Denken Sie an den Nihilismus Basarows in "Väter und Söhne" oder an den revolutionären Fanatismus einer jungen Frau in der Kurzgeschichte "Die Schwelle". Welche Rolle spielte Turgenjews Werk für die revolutionäre Bewegung in Russland?
Goldt: Autoren wie Turgenjew oder Alexander Herzen sind im politischen Sinne Erben der Aufklärung. Turgenjews soziales Engagement ist demzufolge ein ganz anderes als dasjenige Leo Tolstojs - es entspringt dem Ethos des Weltbürgertums, nicht der Religiosität. Darum ja auch die verzweifelte Bitte des von tödlicher Krankheit gezeichneten Turgenjew in seinem Abschiedsbrief an Tolstoj: "Mein Freund! Kehren Sie zur literarischen Arbeit zurück!" Noch fremder wäre Turgenjew eine politische Instrumentalisierung seiner Kunst gewesen, davon zeugt sein ganzer Lebenslauf, zeugen die Brüche mit einstmals nahe stehenden Kollegen wie Nekrasov.
Seit zwei Jahrhunderten wird in Russland darüber diskutiert, welchen Weg das Land gehen sollte. Turgenjew gehörte zu den Anhängern eines europäischen Wegs, zur Gruppe der Westler. In den 1990er Jahren regierten in Russland von Westlern beeinflusste Liberal-Demokraten, die jedoch nach dem Machtantritt Putins ihre Position verloren. Sind die heutigen Machthaber im Kreml eher von den Ideen der Panslawisten und Eurasier beeinflusst und vertreten eine antiwestliche Position? Und könnten westliche Ideen in Russland wieder populär werden und die Liberal-Demokraten erneut an die Macht kommen?
Goldt: Die heutigen Machthaber in Russland sind viel zu sehr Pragmatiker, als dass sie sich von panslawischen Ideen leiten lassen würden, die inzwischen selbst geopolitisch ihren Sinn verloren haben, vom Ideengehalt ganz zu schweigen. Ich sehe die Alternative zum klassischen Westlertum eines Turgenjew und zum mittlerweile nicht minder historischen Westlertum der Perestrojka und der 1990er Jahre im angesprochenen Eurasiertum. Diese in der russischen Emigration der 1920er Jahre entstandene gegenaufklärerische, europaskeptische Denkrichtung wird zunehmend politisch adaptiert und entsprechend zurechtgestutzt, etwa im Blick auf den postsowjetischen Raum. Die Stimmen der Liberalen werden es in Zukunft eher noch schwerer haben - ich fürchte allerdings, nicht nur in Russland.