BOYKOTT ALS LETZTES MITTEL?
(n-ost) – Es gilt als Taschenparlament des Präsidenten: Das Parlament, das die Weißrussen am Sonntag neu wählen sollen, hat Alexander Lukaschenko 1996 mit einer umstrittenen Verfassungsänderung selbst ins Leben gerufen. Oppositionellen war der Zugang zur Volksvertretung bisher verwehrt. Die vermeintlichen Volksvertreter beschränkten sich darauf, die Beschlüsse Lukaschenkos abzunicken. Doch seit einigen Monaten gibt es Hoffnungen, dass der weißrussische Präsident, der wegen zahlreicher Menschenrechtsverstöße nicht in die EU einreisen darf, seine Haltung ändert.Das Verhältnis Alexander Lukaschenkos zu Russland ist schlecht wie nie. Moskau zeigte sich zuletzt immer weniger bereit, die weißrussische Wirtschaft mit billigen Gaslieferungen zu subventionieren. Kühl hat der Kreml auch auf Lukaschenkos Ehrgeiz reagiert, den seit 1997 bestehenden russisch-weißrussischen Staatenbund so auszugestalten, dass beide Partner gleichberechtigt wären. Vom östlichen Bündnispartner immer wieder in die Schranken gewiesen, streckte der weißrussische Präsident seine Fühler zuletzt nach Westen aus.Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit EU-Staaten ist attraktiv, doch pocht Brüssel auf die Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Standards in Weißrussland. Und so machte Lukaschenko Zugeständnisse: Er erlaubte die Eröffnung einer offiziellen Vertretung der EU-Kommission in der weißrussischen Hauptstadt Minsk und ließ die prominentesten politischen Häftlinge frei, darunter Alexander Kasulin, oppositioneller Präsidentschaftskandidat von 2006. Sind demokratische Parlamentswahlen der nächste Schritt?Die weißrussische Menschenrechtsorganisation „Charta 97“ nimmt Alexander Lukaschenko die Läuterung vom Diktator zum Demokraten nicht ab. Sie ruft bereits seit Monaten zum Boykott der Wahlen zur Repräsentantenkammer, wie das Unterhaus des weißrussischen Parlaments offiziell heißt, auf. „Keine unnötige Legitimation dem Kämmerlein“, heißt die Devise des Boykotts. Die Liste der bereits während des Wahlkampfes notierten Verstöße gegen demokratische Prinzipien ist lang. Das berichtet die Initiative „Menschenrechtler für freie Wahlen“. Die Initiative ist ein Zusammenschluss von über 300 unabhängigen Juristen und Journalisten in Weißrussland.Einer der Hauptkritikpunkte: Da die wichtigsten Wirtschaftsbetriebe in staatlicher Hand sind, ist eines der Hauptdruckmittel gegen Oppositionelle der Verlust des Arbeitsplatzes. Wer auf der gemeinsamen Wahlliste der Oppositionsparteien in Weißrussland kandidiert oder auch nur mit seiner Unterschrift die Kandidatur eines Lukaschenko-Gegners unterstützt, läuft Gefahr, seinen Job zu verlieren. Und findet nicht so leicht einen neuen, hat doch kein Staatsbetrieb Interesse daran, es sich wegen der Beschäftigung eines „Radikalen“ mit der Obrigkeit zu verscherzen.Auch die Unterschriftenlisten selbst, Voraussetzung für die Zulassung der Kandidaten zur Wahl, sind Gegenstand von Manipulationen. Beamte, Lehrer und andere Staatsangestellte werden nach Angaben der „Menschenrechtler für freie Wahlen“ gezwungen, für regimetreue Kandidaten Unterschriften zu sammeln. Populäre Oppositionspolitiker wie etwa den stellvertretenden Vorsitzenden der nationalkonservativen Partei Belarussische Nationale Front (BNF) Wintsuk Wjatschorka ließen die Behörden dagegen wegen angeblich gefälschter Unterstützerunterschriften nicht zur Wahl zu.In den staatlichen Medien Weißrusslands gibt es praktisch keinen Platz für Debatten zwischen Lukaschenko-Anhängern und -Gegnern, Wahlwerbespots der oppositionellen Kandidaten werden zensiert. Und wer sich zu polemisch äußert, läuft ohnehin Gefahr, wegen Verleumdung oder Beleidigung seine Registrierung als Kandidat zu verlieren.Am schlimmsten aber finden Oppositionspolitiker und unabhängige Beobachter die Tatsache, dass kaum Oppositionelle als Beobachter der Stimmauszählung in den Wahllokalen zugelassen wurden. „Die größten Fälschungen der Wahlergebnisse wurden während der vergangenen Wahlen seit 2001 bereits auf der Ebene der Wahllokale beobachtet“, sagt Tatjana Revjaka, Sprecherin der „Menschenrechtler für freie Wahlen“.Stehen also alle Zeichen unter den Gegnern von Staatspräsident Lukaschenko auf Boykott? Nicht ganz. Ljawon Barschtscheuski, Vorsitzender der Belarussischen Nationalen Front, hätte es gern gesehen, wenn seine Partei die Parlamentswahlen geschlossen boykottiert. „Wahlen gab es nicht, gibt es nicht und wird es nicht geben“, befand Barschtscheuski kürzlich in einem Interview. Doch für seine harte Linie fand der BNF-Vorsitzende auf einem Parteitag kurz vor den Wahlen keine Mehrheit: Mit 21 zu zehn Stimmen beschlossen die Delegierten, dass jeder Parlamentskandidat aus den Reihen der BNF selbst entscheiden solle, ob er seine Kandidatur bis zum Wahltag fortsetzt. Und machten damit einen zuvor getroffenen Beschluss rückgängig, nachdem ihre Partei alle Kandidaten kurz vor dem Urnengang aus Protest zurückziehen sollte.Ähnlich widersprüchlich ist das Bild in einer weiteren großen Oppositionspartei, der wirtschaftsliberalen und russlandfreundlichen Vereinigten Bürgerpartei (OGP). Aus Protest, in keiner staatlichen Druckerei ein gemeinsames Wahlkampfflugblatt drucken zu dürfen, zogen fünf führende OGP-Politiker ihre Kandidatur zurück. Anatolij Lebedko jedoch, bekanntestes Gesicht der OGP und vom einstigen Weggefährten zum erbitterten Gegner Lukaschenkos geworden, ist entschlossen, seinen Wahlkampf zu Ende zu führen. Auch wenn er dies keineswegs damit begründet, einen Abgeordnetensessel anzustreben, sondern damit, Manipulationen in seinem Wahlkreis bis zum letzten Moment aufdecken zu können.Politische Kommentatoren bewerten das Verhalten der Opposition angesichts der Wahlrechtsverstöße unterschiedlich. Die einen werfen den Lukaschenko-Gegnern wieder einmal Unentschlossenheit mit tragikomischen Zügen vor. Andere halten das Spiel mit dem Rückzug von Kandidaten für einen geschickten Schachzug. Auf diese Weise könne die Opposition den Druck auf das Regime erhöhen, ihre noch verbleibenden populären Politiker ins Parlament einziehen zu lassen.Darüber hinaus vertrauen die Vereinigten Demokratischen Kräfte, das Wahlbündnis der Oppositionsparteien in Weißrussland, auf die Bereitschaft der Weißrussen, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen: Für den Wahlabend haben sie bereits zum Massenprotest auf dem Oktoberplatz, dem zentralen Platz in Minsk, aufgerufen. „Ich selbst werde auf jeden Fall auf dem Platz sein“, kündigte Ljawon Barschtscheuski an. „Wir müssen die Durchführung neuer, tatsächlich gerechter und demokratischer Wahlen fordern“, so der BNF-Vorsitzende.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0