Osteuropäisch-jüdische Musikkultur in Europa
Wie wird heute das jüdische Erbe als Teil der nationalen und europäischen Geschichte gesehen? Dieser Frage ging die Tagung "Impulse für Europa - Osteuropäische Juden in Geschichte und Gegenwart", veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft im Centrum Judaicum, zu Wochenbeginn in Berlin nach. Der russisch-jüdische Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov gab dabei den Ton an mit Werken der russisch-jüdischen Komponisten Josef Achron und Lazare Samniski und mit Erläuterungen zum Einfluss jüdischer Musik auf europäische Komponisten.
Der jüdische Pianist Jascha Nemtsov stammt aus Russland und lebt seit 1992 in Deutschland. Seit sechs Jahren ist er Mitglied des Instituts für Jüdische Studien an der Universität Potsdam und forscht dort über jüdische Musik. Er gilt als Wiederentdecker der Neuen jüdischen Schule in der Musik, einer musikalischen Strömung, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts in Sankt Petersburg gegründet wurde. Welche Einflüsse haben die europäischen Komponisten damals von jüdischen Musikern erfahren? Und wie verlief die Inspiration umgekehrt? Was davon wirkt heute noch? Das sind die Fragen, mit denen sich Nemtsov beschäftigt.
Jascha Nemtsov / privat
"In der wissenschaftlichen Literatur liest man beispielsweise, dass Beethoven in einer seiner späteren Streichquartette jüdische Melodien benutzt habe", sagt Nemtsov. Er hält das allerdings für sehr spekulativ, obwohl die osteuropäische jüdische Kultur für ihn natürlich nicht zu trennen ist von der gesamteuropäischen. Insbesondere deswegen, weil zwischen den beiden Weltkriegen viele osteuropäische Juden in westliche Länder eingewandert sind. Denn nach einer Reihe von Pogromen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts flüchteten viele osteuropäische Juden ins Herz Europas.
Im Gegensatz zum eher konfessionellen Selbstverständnis der westeuropäischen Juden definierten sich die Juden der osteuropäischen und mittelosteuropäischen Länder jedoch mehr ethnisch. Nicht nur deswegen, auch wegen des unterschiedlichen Grades ihrer Integration in die Gesellschaft war das Zusammenleben zwischen den Ost- und Westjuden anfangs schwierig: Auf einmal hatten die westlichen Juden Angst, dass ihre ärmeren osteuropäischen Brüder mit ihrer traditionellen Art die Europäer gegen sich aufbringen würden. Zugleich suchten die Westjuden mit Hilfe der Ostjuden nach einer neuen Identität."Vor dem zweiten Weltkrieg etablierte sich eine jüdische Nationalbewegung, die den Kulturzionismus pflegte. Es waren Menschen, die nicht nach Palästina auswandern, sondern eine kulturelle Autonomie erreichen wollten", erklärt Jascha Nemtsov. Juden aus dem östlichen Europa gründeten in mehreren europäischen Ländern jüdische Verlagshäuser, und Medienanstalten.
Die Bezeichnung "Ostjude" wurde seit dem Ersten Weltkrieg zwar vornehmlich im Zusammenhang mit der von den Antisemiten beschworenen "Ostjudengefahr" gebraucht. Die osteuropäischen Juden wurden aber zugleich zu romantisierten Gegenfiguren der mitteleuropäischen Zivilisation gemacht.Kunst und Musik waren das Metier vieler osteuropäischer Juden. Sie gründeten eigene Chöre und Orchester. "Zum Beispiel die Chorbewegung Hazomir. Diese entstand zuerst in Polen, später auch in weiteren europäischen Ländern", erzählt Nemtsov und fährt mit Beispielen aus der Musikgeschichte fort: "In den 30er Jahren existierte in Wien ein Verein, der die jüdische Musikkultur in Österreich bewahrte und Konzerte in Ländern wie Italien, Rumänien und Lettland organisierte."In Frankreich wiederum formte sich ein Kreis um Marc Chagall, Issachar Ryback und andere russische Künstler: "Sie kamen aus Russland und prägten unter anderem mit jüdischen Motiven die europäische Avantgarde mit." In der Musik war das Jüdische ebenso präsent. "Der russische Klassiker Modest Mussorgsky und der deutsche Komponist Max Bruch haben Melodien aus der jüdischen Liturgie bearbeitet", sagt Nemtsov.
Die vielfältige gegenseitige Beeinflussung hat ihren Ursprung jedoch weit vor der Wende zum 20. Jahrhundert. In der ethnisch, konfessionell und kulturell vielfältigen Region Ost- und Ostmitteleuropa, die Rede ist vom polnisch-litauischen Reich, von der Habsburger Monarchie, vom Zarenreich sowie vom Osmanischen Reich, fanden sehr viele Juden eine Heimat. Seit dem Einsetzen der Judenverfolgungen im westlichen Europa am Ende des 11. Jahrhunderts hatten die Juden in den östlichen Teilen des Kontinents, vor allem in Polen, Aufnahme und Schutz durch die Landesherren gefunden. Gerade die so entstandene multikulturelle Mischung der östlichen europäischen Gebiete ist eine Besonderheit. Es ist deshalb oft kaum möglich herauszufinden, wer von wem im Einzelnen beeinflusst war.
Dieses Prinzip trifft auch auf die Volksmusik der osteuropäischen Länder zu. Viele europäische und orientalische Einflüsse sind miteinander verschmolzen.Während des Zweiten Weltkriegs konnten die Juden ihre Religion und Traditionen nicht weiter in Osteuropa ausüben. Groß war die Angst vor der politischen Verfolgung auch in der Familie von Jascha Nemtsov. Seine Eltern haben ihn von der Synagoge und der jiddischen Sprache fern halten müssen. "Deshalb konnten die russischen Juden relativ wenig von der jüdischen Kultur übernehmen."Die Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg und das Verbot ihrer Religion und Kultur im Kommunismus hat den jüdischen Einfluss auf Kultur und Geschichte des Kontinents bedeutend verringert.
Das versuchen heute Organisationen, Gemeinden und Privatpersonen wieder zu beleben. So entdeckte Jascha Nemtsov zum Beispiel die Neue jüdische Schule in der Musik wieder. Eigentlich entstand diese Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland mit dem Ziel, die alte jüdische Volksmusik zu sammeln und zu bewahren. Nach der Oktoberrevolution breitete sich diese Musik in ganz Europa aus, weil auch einige ihrer Vertreter nach Österreich, Deutschland und Frankreich emigriert waren.
In Deutschland verhilft Jascha Nemtsov heute der authentischen jüdischen Volksmusik zu neuer Popularität und erforscht sie systematisch. Er ist etwas unglücklich darüber, dass jüdische Musik oft nur mit Klezmermusik assoziiert und gleichgesetzt wird, obwohl sie "meistens sehr kitschig vorgetragen wird und nur kommerziellen Zwecken dient". Für Nemtsow ist es wichtig, sich heute wieder und neu aus der oft unerahnten Vielfalt der europäischen und jüdischen Kulturen inspirieren zu lassen und Neues dazuzulernen.