"Jazz bringt Moldau zum Brodeln" / Interview mit Anatol Stefanet
Einmal im Jahr löst sich die Erstarrung, in der sich die Kulturszene der Republik Moldau befindet. Wenn Kubaner, Iraner, Tunesier, Venezolaner und europäische Ensembles in Europas wohl unbekanntestem Staat beim Ethno Jazz Festival zusammentreffen, verwandelt sich der große Saal des Nationaltheaters in der Hauptstadt Chişinău für vier Tage in einen brodelnden Jazzclub. Das drei Millionen Einwohner zählende Land zwischen Rumänien und der Ukraine ist offiziell der ärmste Staat Europas. Für die kommunistische Regierung soll Kultur der Verbreitung der eigenen Ideologie dienen, hat aber ansonsten keine Priorität. Das Kulturleben beruht fast ausschließlich auf privatem Engagement. Das seit sieben Jahren stattfindende Festival organisiert zudem Konzerte in dem umstrittenen Landesteil Transnistrien. Dem Festival gelingt es damit, das Land und seine Einwohner über die politische Konfrontation hinweg zu einen. Ein Gespräch über Jazz und Kulturpolitik mit Anatol Ştefaneţ, Gründer des Festivals und Bandleader der Jazzformation „Trigon“.
Anatol Stefanet, moldauischer Jazzmusiker und Gründer des Ethno Jazz Festivals / Trigon
ostpol: Herr Ştefaneţ, gibt es moldauischen Jazz?
Anatol Stefanet: In den 50er Jahren hat ein russischer Musiker damit begonnen, Jazzmusik in Moldau zu spielen. Diese Anfänge waren im US-amerikanischen Standardjazz verankert. Aber viele Stücke hatten Volksmusik als Grundlage, die einfach weiterentwickelt wurde. In den späten 70er bis Anfang der 80er Jahre wollten viele moldauische Musiker Jazzmusik spielen, doch fehlte ihnen der Glaube an den Jazz als eine Möglichkeit sich auszudrücken. Mit „Trigon“ haben wir in den 90er Jahren angefangen, Jazz auf der Grundlage von Volksmusik zu improvisieren.
Charakteristisch für Moldau ist, dass auch Opernsänger und Rockmusiker im Bereich der Volksmusik angefangen haben und regelmäßig zu dieser zurückkehren. Sind die Verbindungen zwischen Folklore und der so genannten U- und E-Musik wirklich so eng, wie es scheint ?
Stefanet: Die talentiertesten Musiker haben schon immer in den größeren Städten oder der Hauptstadt gewohnt. Die Menschen auf dem Land, die gute Musik hören wollten, haben die Künstler zu sich eingeladen und sie in das Dorfleben integriert. Die Dorfbevölkerung hat sich mit den Künstlern weitergebildet und die Musiker mit den Bauern. Dieser Kreislauf funktioniert auch heute noch. Gleichzeitig haben die Leute, die in die Hauptstadt gezogen sind, den Wunsch, diese eigene Kulturform in das Stadtleben einzubringen.
Ihr Festival ist innerhalb weniger Jahre das größte internationale und gleichzeitig kommerziell erfolgreichste Kulturereignis in Moldau geworden. Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Stefanet: Es geht nicht um den kommerziellen Erfolg. Folklore, Klassik und Schlager sind hier als Stile gut entwickelt, doch die Hauptidee dieses Festivals ist, in unserem Land Jazzmusik zu fördern und weiterzugeben. Der Erfolg kommt durch die Qualität. Wir treten sehr häufig auf Festivals im Ausland auf und wollen nicht schlechter als die anderen sein. Deswegen laden wir nach Moldau interessante Musikprojekte ein, interessante Persönlichkeiten aus dem Bereich der Jazzmusik. Genau das verpflichtet uns zu hohen Standards.
Warum sind die beiden am professionellsten organisierten Kulturereignisse in diesem Land – Ihr Festival und das jährliche Festival des Dokumentarfilmes „Cronograf“ – unabhängig vom Staat entstanden?
Stefanet: Unser Festival beruht allein auf unserer Initiative. Die ganzen sieben Jahre haben wir uns bemüht, das Ereignis nicht zu politisieren. Wenn ich staatliche Unterstützung suche, fangen die Beamten an mir zu sagen, welche Musiker ich einladen soll. Im moldauischen Kulturministerium gibt es keine Spezialisten im Bereich Jazzmusik, so dass ihre Hilfe nur finanzieller Art sein könnte. Außerdem ist die Lage im Kulturbereich in Moldau extrem schlecht.
Veranstaltungsplakat für das Festival / Michael Wiersing, n-ost
Sie arbeiten seit 30 Jahren im Kulturbetrieb. War die Situation für Künstler zu Sowjetzeiten besser als heute?
Stefanet: Zu Sowjetzeiten bekam jeder Künstler ein Gehalt, von dem er leben konnte. Einige Dinge waren gut organisiert, nicht viele, aber genügend, um das Kulturleben in Bewegung zu halten. Wenn man pensioniert wurde, bekam man eine Rente und war gesellschaftlich integriert. Seit dem Ende der Sowjetunion haben wir mehr Freiheit, mehr Möglichkeiten, um zu reisen, aber wir haben keine persönliche Stabilität mehr, weil die Löhne extrem niedrig sind. 100 Euro pro Monat sind zu wenig, wenn man für einen Einkauf 30 Euro im Geschäft lässt. Wir brauchen ein soziales Gleichgewicht zwischen Künstlern einerseits und der Gesellschaft andererseits. Künstler sind das Spiegelbild der Gesellschaft. Sie sind das Werkzeug, um dem Volk bewusst zu machen, was an allererster Stelle kommt.
Die bekanntesten Schauspieler, Musiker und Künstler Moldaus sind auf dem Land aufgewachsen und arbeiten heute in in der Hauptstadt. In den Dörfern verfallen die Kulturhäuser, die Musik- und Malschulen für Kinder sind geschlossen. Welche Zukunft hat das Kulturleben in der Provinz?
Stefanet: Ich war vor ein, zwei Jahren in meinem Heimatdorf. Dort leben meist Alte und Kinder. Die mittlere Altersschicht ist nach Moskau oder Italien ausgewandert, weil sie dort mehr Geld verdienen können und sich ein besseres Leben wünschen. Viele kulturelle Aktivitäten gehen jedoch von der Dorfjugend aus, den Leuten zwischen 20 und 40. Tanzkreise, Blasensembles oder Volksmusikorchester entstehen aber nicht mehr, weil die mittlere Generation einfach nicht mehr da ist.
Anatol Stefanet wurde 1956 in einem Dorf in Nordmoldova geboren. Seit dem neunten Lebensjahr spielt er Geige, zunächst in der Musikschule für Kinder, später am Musikgymnasium. Von Mitte der 70er bis Anfang der 90er Jahre spielte er Bratsche in zwei der bekanntesten Moldauischen Volksmusikensembles. 1992 gründet er die Ethnojazzformation „Trigon“, mit der er seit einigen Jahren sehr erfolgreich in Dutzenden Ländern zwischen Kasachstan und Kanada auftritt.
Die Republik Moldau liegt im Südosten Europas zwischen Rumänien und der Ukraine und hat rund drei Millionen Einwohner. Die ehemalige Sowjetrepublik gilt seit über einem Jahrzehnt als das ärmste Land Europas. Viele Einwohner arbeiten im Ausland und unterstützen von dort ihre Familien finanziell. Die kommunistische Regierung tritt für eine enge Partnerschaft mit Russland ein, während die junge Bevölkerung immer stärker nach Europa strebt.
Was sollte der Staat tun, um die Situation zu verändern?
Stefanet: Das Budget für kulturelle Maßnahmen sollte ein bis zwei Prozent des staatlichen Gesamthaushalts betragen. Wir brauchen Räumlichkeiten, Instrumente, aber in erster Linie ein Gehalt, das eine soziale Existenz erlaubt. Wir haben zwar viele Talente in unserem Land, aber wenn ihnen klar wird, dass man vom Talent allein nicht leben kann, fahren sie ins Ausland um Geld zu verdienen. So verlieren sie ihr Talent.
Seit einigen Jahren veranstalten Sie im Rahmen des Jazzfestivals Konzerte in Tiraspol, der Hauptstadt des abtrünnigen Landesteils Transnistrien. Sind die kulturellen Kontakte zwischen Chişinău und Tiraspol viel einfacher zu organisieren, als man annimmt?
Stefanet: Wenn die Politiker bis heute nicht die politischen Probleme zwischen Transnistrien und dem Rest Moldaus gelöst haben, kann auch ich diesen Konflikt nicht lösen. Aber da sind Musiker in Transnistrien, die die gleichen Konzerte hören wollen, die wir in Chişinău veranstalten. Für sie machen wir das. Das Publikum dort ist jung, weil die Konzerte in Schulen stattfinden. Es ist ein anspruchsvolles Publikum und offen für andere Kulturen.
Kooperieren Sie mit der transnistrischen Verwaltung? Es wird erzählt, dass die Besucher der ersten Konzerte davon nur über Mundpropaganda erfahren haben.
Stefanet: Ich habe damals bei der dortigen Behörde für Bildung und Kultur vorgesprochen. Die Verantwortliche hat zugesagt, dass wir in den großen Konzertsaal von Tiraspol gehen können. Aber eine Woche vor dem Termin hieß es dann auf einmal, der Saal sei besetzt. Wir waren gezwungen, auf den Konzertsaal im städtischen Musikgymnasium auszuweichen. Das heißt, die Absprache mit der Verwaltung lief glatt, aber rein praktisch hat es nicht funktioniert. Inzwischen haben wir andere Lösungen gefunden: In Tiraspol gibt es einen Musiker, der am Musikgymnasium unterrichtet, und er organisiert uns einen Saal. Wir haben einen Bekannten, der beim Militär arbeitet, jede Musikgruppe wird an der Grenze zwischen Transnistrien und dem Rest der Republik abgeholt und wieder zurückgebracht.