Wohin steuert Russland?
Die Fassade Putinscher Stabilität bröckelt nach den Parlamentswahlen. In Samara an der Wolga treten drei Kommunisten in Hungerstreik, in Moskau und St. Petersburg gehen Tausende auf die Straße. Menschen, die vorher noch nie bei einer Oppositionsdemo waren, schwenken plötzlich Fahnen und fordern ein „Russland ohne Putin“. Wird der Kreml die Daumenschrauben nun noch fester anziehen oder seine politische Struktur liberalisieren und damit zwangsläufig die bestehenden Vertikale der Macht zerstören?
Moskau (n-ost) – Die Geister der Staatsmacht sind leicht zu beschwören. Ein Plakat in der Hand, hie und da der gerufene Satz „Russland ohne Putin“ auf einem zentralen Platz einer russischen Stadt, schon zeigen sie ihre hässliche Fratze, mit Stahlhelm und Schlagstock. Auch jetzt wieder, quer durch das größte Land der Erde, in Moskau, St. Petersburg, Nowosibirsk, Tomsk. Heraufbeschworen von den Nicht-Einverstandenen, die zu Tausenden auf die zentralen Plätze von Russlands Städten strömen. Die dort im Regen ausharren, im Schnee. Es sind Menschen, die die Arroganz des Kremls satt haben. Das mündige russische Volk, das sich fragt: Was wird aus uns?
Mag die Wahl am Sonntag nichts an den bestehenden Machtverhältnissen im russischen Parlament geändert haben, geändert hat sich die Haltung vieler Russen. Jene, die noch nie auf einer Oppositionsdemonstration waren, schwenken plötzlich Fahnen „für faire Wahlen und Demokratie“. Sie wollen sich nicht mehr von ihrer Regierung für dumm verkaufen lassen, sie zweifeln öffentlich an der Unantastbarkeit des Führungsduos Putin und Medwedew. Ihre Waffen sind die Smartphones, mit denen sie manipulierte Wahlzettel filmen, die Blogs, in denen sie die Wahlfälschungen dokumentieren. „Der Veränderungsprozess der Gesellschaft hat begonnen“, sagt Lilija Schibanowa von der unter Druck geratenen russischen Wahlbeobachterorganisation „Golos“ (Stimme).
Die herben Verluste für die Kreml-Partei „Einiges Russland“ sind nicht nur ein Warnschuss für die Präsidentschaftswahlen im März 2012. Sie manövrieren Russland geradewegs in ein Dilemma, dessen Lösung zeigen wird, wohin das Land steuert: noch mehr Druck oder eine größere Freiheit?
Die Führung kann es sich nicht leisten, die Daumenschrauben noch fester anzuziehen. Das schwache Ergebnis für „Einiges Russland“ ermutigt die Russen zum anhaltenden Protest. Sie fühlen sich durch das Wahlergebnis gestärkt, weiter nach Veränderung zu streben. Auch wenn sie nur langsam kommt. Von einer Revolution sind sie weit entfernt. Sie wollen sie auch gar nicht, zu tief sitzt noch der Schock aus den 90er Jahren.
Doch plötzlich muss die Duma zu einem „Platz der Diskussionen“ werden, „Einiges Russland“ lernen, Kompromisse einzugehen. Im herrschenden autoritären System hat die Einheitspartei das längst verlernt. Ihre Opponenten, auch wenn sie Kreml-nah sind, könnten nun ihre Stimmen im Parlament etwas lauter erheben. Die ersten tun das schon. Drei Mitglieder der Kommunistischen Partei sind bei Samara an der Wolga in Hungerstreik getreten. Sie fordern die Neuauszählung der Stimmen.
Unterdessen schickt das russische Innenministerium Spezialeinheiten auf Moskauer Straßen, lässt Sicherheitskräfte am Parlamentsgebäude aufmarschieren und die Justiz verurteilt Oppositionelle zu 15 Tagen Haft.
Das „Eingehen auf die Proteste“, wie vom Premier Wladimir Putin gefordert, geschieht vor allem mit Gewalt. Dabei sehnt sich das Volk nach Liberalisierung und schreit es laut heraus. „Herumgeplärre“ nennt das der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Wladislaw Surkow. Der Chefideologe des Kremls hat die „Souveräne Demokratie“ erfunden und weiß, jegliches Loslassen der straffen politischen Leine würde zur Demontage der berüchtigten Vertikale der Macht führen. Zerlegt sie der Kreml, riskiert er, unter den Trümmern dieser begraben zu werden. Ein absehbarer Untergang des Systems.
Noch nimmt die politische Elite den immer tiefer werdenden Graben zwischen sich und dem Volk in Kauf, wiederholt die Beschwörungsformel von „kristallklaren, demokratischen Wahlen“. Sie setzt auf die „Pendel-Methode“, hier ein bisschen Freiheit, dort noch mehr Druck. Wie lange noch?