Georgien

Alltag in Trümmern

Ganze Stadtviertel liegen in Schutt und Asche, ausgebrannte Häuserskelette reihen sich an der Hauptstraße entlang, die mit Glassplittern und zerbrochenen Eternitplatten übersät ist. Der Krieg hat deutliche Spuren in Zchinwali, der Hauptstadt Südossetiens hinterlassen. Der 68-jährige Suliko Kamaido steht vor den Trümmern seines Hauses und knöpft sein schmutziges Hemd auf. "Das haben sie mir angetan, die Georgier", möchte er wohl sagen. Doch er schweigt und legt einen anklagenden Blick auf. Auf seinem Brustkorb zeichnen dunkelblaue Fäden die Wunde nach, die er bei der Detonation einer Granate erlitten hat. Orangefarbenes Desinfektionsmittel klebt auf der Haut.


Rentner Ruslan vor den Trümmern seiner Stadt. / Florian Willershausen, n-ost

Eine Woche hat der Rentner im Krankenhaus von Zchinwali verbracht. Nun geht er an den Ort zurück, an dem es geschehen ist: ein dunkles Kellerverlies, in dem rund 100 Menschen aus der Nachbarschaft während der drei Nächte dauernden Angriffe Zuflucht gesucht haben. Als er sich in der zweiten Nacht auf den Treppeneingang wagte, um frische Luft zu schnappen, ging in unmittelbarer Nähe eine Granate hoch und fegte Metallteile durch die Luft. Ein Schulfreund und eine Frau, die er nicht kannte, waren sofort tot, erzählt Kamaido. Verzweifelt fragt er nach dem Sinn des Krieges: "Warum? Warum mussten sie alle sterben?"

Es war die Nacht zum 8. August, in der sich das Leben von Suliko Kamaido und das der anderen Einwohner von Zchinwali schlagartig veränderte. Georgische Kampftruppen griffen Südossetiens Hauptstadt mit Kampfhubschraubern, Granaten und Raketenwerfern an, auch Streubomben sollen nach Berichten von Mitarbeitern humanitärer Organisationen verwendet worden sein. Auch wenn die offiziellen Angaben über Todesopfer, die zwischen 1.500 und 2.200 variieren, zweifelhaft erscheinen, hat jeder der rund 35.000 Bewohner von Zchinwali mindestens ein Opfer im Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis zu beklagen.

Die Stadt ist eine einzige Trümmerwüste. Sämtliche Geschäfte sind verbarrikadiert, Glasscherben liegen auf dem Boden, die Regale wurden leer geräumt, vermutlich von hungernden Plünderern. Lediglich die Apotheke an der Hauptstraße hat geöffnet. Dort gießt eine ältere Frau aus Fünf-Liter-Kanistern Trinkwasser in einen Plastikbecher, an dem reihum alle Wartenden nippen. Die Trinkwasserleitungen sind zerstört, Brauchwasser gibt es nur für mehrere Stunden am Tag, Gas können sich die Einwohner an einem Lastwagen in kleine Druckbehälter abfüllen lassen. Vor den russischen Gaslastern bilden sich wie auch vor der städtischen Brotfabrik lange Warteschlangen.

Und doch schöpfen die Menschen wieder Hoffnung. Die Stadt ist fest unter russischer Kontrolle, an jeder Ecke steht ein Schützenpanzer mit schwer bewaffneten Soldaten der 58. russischen Armee. Nur ab und an sind Detonationen in den Bergen zu vernehmen, die letzten hörbaren Zuckungen des Kriegs. Die Russen sagen, es sei die Sprengung von Mienen. Vielleicht werden auch georgische Dörfer zerstört, damit deren Einwohner nicht mehr zurückkommen können und die zuletzt regelmäßigen Schießereien mit südossetischen Separatisten aufleben lassen.

Die Überlebenden von Zchinwali und russische Soldaten sind sich einig: Die schwere Zerstörung geht auf das Konto der georgischen Armee. "Dort oben hat ein ,Grad' gestanden", sagt Rentner Ruslan und deutet mit dem Arm auf eine grüne Wiese am Horizont, von wo aus die Georgier mit dem Mehrfach-Raketenwerfer "Grad" auf sein jüdisches Viertel geschossen haben. Dann bückt er sich und hebt zum Beweis ein Blechteil auf, das dem Heck einer Rakete ähnlich sieht. Tatsächlich ist der Bezirk völlig zerbombt - anscheinend haben die Angreifer ihre schweren Waffen auf die Delmana-Straße gerichtet und stundenlang daraufgehalten. Ruslan und seine Familie sind verschont geblieben, zwei Nachbarn starben. Jetzt lebt er in jener Hälfte seines Hauses, deren Decken noch nicht eingestürzt sind. Wie gut, dass Sommer ist in Südossetien.


Häuserruinen im einst dicht bebauten jüdischen Viertel. /
Florian Willershausen, n-ost

"Die schwere Zerstörung von Zchinwali ist nicht darauf zurückzuführen, dass die Georgier schlecht geschossen haben", sagt Anatoli Korobowski, ein Oberst der russischen Armee. Die Bombardierung hätte psychologische Gründe gehabt. "Solch einen schweren Beschuss hält die menschliche Psyche nicht aus." Die Menschen sind gebrochen - und leisten keinen Widerstand.Doch es bleiben auch Fragen offen: Vertreter der russischen Friedenstruppen, die seit dem letzten Krieg im Jahr 1992 in Südossetien stationiert sind, behaupten, sie hätten keine schweren Waffen zur Verteidigung gehabt. Die Georgier griffen zuallererst die Kommandantur auf einem Hügel über der Stadt an - und nahmen die Kaserne trotz heftiger Bombardierungen nicht ein. Die Friedenssoldaten warteten, bis mehr als ein Tag nach Beginn der Attacke die Kampftruppen aus Russland einrückten und die Stadt eroberten. Haben sich die Russen dem Angriff bis dahin bloß mit Kalaschnikow-Gewehren widersetzen können? Offen bleibt auch, ob der erste Schuss von georgischer Seite ausging oder ob Tiflis einen Schusswechsel mit südossetischen Separatisten zum Anlass für den Großangriff nahm.


Die zerstörte Kommandantur der Friedenstruppen. Hier sollen die
russischen Soldaten ausgeharrt haben, bis Verstärkung kam. /
Florian Willershausen, n-ost

Doch Details und Ursachen kümmern die Menschen von Zchinwali derzeit wenig. Sie haben im Krieg alles verloren - und denken jetzt an den Wiederaufbau. Den übernehmen zunächst tausende Einsatzkräfte des russischen Katastrophenschutzes. Sie baggern unweit der zerstörten Stadtverwaltung den Boden auf und reparieren die Trinkwasserleitung. Ein Panzer war dort eingebrochen und hatte sie beschädigt. Anderswo rattern Caterpillar-Bagger durch Vorgärten und schieben Trümmer beiseite, aus denen ohnehin kein Haus mehr zu bauen wäre. Auf einzelnen Dächern sitzen Menschen und befestigen notdürftig den Dachstuhl, damit er nicht einbricht.

Viele Bewohner packen aber noch nicht mit an. Es sind ältere Menschen, die versunken auf den Straßenbänken sitzen, trauern und klagen. Oder Frauen mittleren Alters, die bei den Helfern Lebensmittel organisieren und nach Hause tragen. Einige der Männer scheinen nach wie vor Waffen zu tragen - in Uniformen der Separatisten, die anhand von Sprache und Uniform von den russischen Soldaten unterscheiden lassen.

Den Einwohnern von Zchinwali fehlt es nicht nur an Baumaterial, sondern auch an Geld, um die Stadt wieder aufzurichten. Die russische Regierung hat 269 Millionen Euro für den Wiederaufbau versprochen. Die Frage ist, ob es bei den Menschen auch ankommt. Seit Jahren zahlt Moskau Entwicklungshilfe an die kremltreue abtrünnige Republik Georgiens. Doch das Geld ist oft in den Taschen des korrupten Regimes um den dubiosen Präsident Eduard Kokoity verschwunden.Indes sind viele Menschen auf den Straßen, der Alltag kehrt langsam nach Zchinwali zurück. Doch die schrecklichen Erinnerungen an die Nacht zum 8. August werden die Einwohner der Stadt so schnell nicht aus ihren Köpfen vertreiben können.


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