Einäschern aus Geldmangel
Goran Babic ist kein durchschnittlicher Rentner. Als kroatisch-jüdischer Jugoslawe, der in Serbien seine Rentenansprüche geltend gemacht hat, als freiberuflicher Publizist, der sich als Kolumnist einer auflagenstarken Tageszeitung etwas dazuverdient und als anerkannter Künstler, der einen monatlichen Rentenzuschuss vom Kultusministerium bekommt, befindet sich der 64-Jährige in einer verhältnismäßig privilegierten Situation. Und doch geht es ihm wie vielen anderen Rentnern in Serbien: Ihr eingezahltes Geld ist in den Wirren von Bürgerkrieg und Staatszerfall verloren gegangen.
Der Künstler und Publizist Goran Babic / Vladimir Gogic, n-ost
Zur Welt kam Goran Babic während des Zweiten Weltkriegs auf einer Adriainsel als Sohn eines kroatischen Wiederstandskämpfers und einer wohlhabenden jüdischen Kommunistin aus Belgrad. Den größten Teil seines Arbeitslebens verbrachte er in Kroatien, damals genauso Teil des gemeinsamen Bundesstaates Jugoslawien wie Serbien. 1990 ging Babic dann nach Belgrad. Der Publizist hatte sich in Kroatien mit dem Tudjman-Regime angelegt, weil er sich als überzeugter Jugoslawe gegen den Zerfall seines Staates gestellt hatte.
„In Kroatien arbeitete ich 22 Jahre, elf davon als Freiberufler. In den Jahren vor der Freiberuflichkeit hatte ich verantwortungsvolle Stellen inne, wie zum Beispiel im Kultusministerium oder als Chef-Redakteur einer angesehenen Zeitschrift“, erzählt er. „Meine 15 Jahre in Belgrad als Freiberufler hatten bei der Rentenberechnung mehr Gewicht als all diese Zeit in Kroatien“, stellt er fest, „und das, obwohl Kroatien größere Renten bezahlt“. Zur Ruhe setzt sich Goran Babic auch als Rentner nicht. So hat er in den vergangenen Jahren Material über seine jüdische Familie mütterlicherseits zusammengetragen. Sie war von den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs in einem Belgrader Konzentrationslager ausgelöscht worden. 2008 ist ein Buch darüber mit dem Titel „Großvater Geza“ entstanden.
Der Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien hinterließ ein riesiges Chaos in den Rentenkassen. Am schlimmsten traf es diejenigen, deren Betriebe allgemein jugoslawisch waren. Oft hatten solche Betriebe den Rentenanteil des Lohns einbehalten, diesen aber nicht sofort an die Rentenkassen weitergeleitet. Erst wenn neue Rentner ihre Ansprüche beim jeweiligen Fonds anmeldeten, zahlten die Großbetriebe die Pauschalsumme beispielsweise für die letzten 15 Jahre. Doch im Kriegschaos der 90er Jahre dachte niemand an irgendwelche Nachzahlungen. Die Folgen sind heute fatal – ein Großteil der Senioren trauert seinen für die Rente nirgends registrierten Jahren nach. Sie fühlen sich betrogen und vergessen – als Kollateralschaden eines Staatsuntergangs.
Rentner in Serbien: Fleisch zu kaufen ist für sie purer Luxus / Vladimir Gogic, n-ost
Babic stellt fest: „In Serbien ist für einen normalen Rentner – und ich kenne eine Menge Leute aus meiner Generation – alles problematisch.“ Er führt eine lange Liste an Schwierigkeiten auf: „Sind sie gesund, haben sie zu wenig Geld für die teuren Nahrungsmittel. Werden sie krank, haben sie kein Geld für Privatkliniken und gute Medikamente, sie müssen die billige Chemie aus China schlucken und in den überfüllten Vorzimmern der maroden Staatsambulanzen auf die schlechte Behandlung warten.“ Die Liste von Babic geht noch weiter: „Wenn sie sich nicht mehr helfen können, kommen sie in die Obhut von schlechten Betreuungseinrichtungen und sind sie schließlich tot, dann hinterlassen sie kein Geld für eine traditionelle Beerdigung.“ Im Todesfall bekomme die Familie für die Bestattungskosten anderthalb Durchschnittsrenten aus dem jeweiligen Fonds. Babic zuckt die Schultern. „Aus Geldmangel wird Einäschern gewählt“, weiß er. Für ihn habe der Vorsteher des Belgrader Zentralfriedhofs letztlich mehr Macht als der Staatspräsident: „An ihm müssen wir alle vorbei, am Präsidenten nicht“, scherzt Babic ohne zu lachen.
Sicher dient sein Galgenhumor zur verbalen Überwindung der Notlage einer gestrandeten Generation. Ihre Vertreter sind die absoluten Verlierer der vielen gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte. Die alten Menschen wissen das, genauso wie ihnen klar ist, dass die biologische Uhr schneller ist als sämtliche Halblösungen der Politik. In Serbien gibt es drei unterschiedliche Fonds der Altersversorgung: einen für ehemalige Beschäftigte, einen anderen für ehemalige Freiberufler und einen dritten für Landwirte. Von insgesamt 1,6 Millionen Rentnern erhalten etwa 1,3 Millionen ihre Altersbezüge aus dem ersten Fonds, der Renten- und Behindertenversicherung. Die Durchschnittsrente beträgt für sie um die 19.000 Dinar – was rein optisch eine stolze numerische Größe darstellt. Umgerechnet sind es nur etwa 240 Euro. Dazu kommt, dass über 60 Prozent der Rente unter diesem Durchschnitt liegt. Die offiziellen statistischen Angaben sind alarmierend. So füllt sich ein durchschnittlicher Verbraucherkorb in Serbien nur, wenn man über 400 Euro monatlich dafür hinblättern kann.
In einem Teufelskreis aus allgemeiner Weltenergiekrise und einheimischer Monopolwirtschaft hat das schwächste Glied in der Kette – die Alten – die schlechtesten Karten. Die am helllichten Tag in den Müllcontainern wühlenden ehemaligen Lehrer, Fabrikarbeiter und Krankenschwestern sind zwar heute keine Massenerscheinungen wie in den 90ern unter Milosevic, aber durchaus keine Seltenheit. Goran Babic erzählt die traurige Geschichte von einer vor einigen Jahren verstorbenen Shakespeare-Übersetzerin, die mit 50 Euro Rente ihr Dasein fristen musste.
Kinder und Familie zeigen sich zwar meist solidarisch, sind aber – falls sie überhaupt Arbeit haben – selbst damit beschäftigt, zurechtzukommen. So benötigte eine vierköpfige Familie im Juli 2007 etwas weniger als 800 Euro zum Leben, zwölf Monate später waren es bereits rund 150 Euro mehr. Die Gehälter stiegen zwar um ein Viertel, die Preise aber oft über 100 Prozent. Ein Weißbrot kostete vor einem Jahr noch unter 20 Cent, jetzt sind es fast 50 Cent. Der Preis für eine Flasche Salatöl hat sich auf fast zwei Euro verdoppelt, für eine große Packung Toilettenpapier kletterte er von etwa zwei auf drei Euro.
Die Auszahlungen aus dem zweiten Fonds sind noch geringer als die aus dem ersten. Das ist auch die Kasse, aus der Goran Babic seine Rente erhält. Mit einem Augenzwinkern merkt er an, dass er als freier Schriftsteller seine Rentenangelegenheiten an dem Schalter erledige, an dem alle ehemaligen Freiberufler in der Schlange warten: Rechtsanwälte, Gastwirte, orthodoxe Popen und Prostituierte.
Die Landwirte sind die absoluten Verlierer in dieser Hierarchie. Sie erhalten eine durchschnittliche Monatsrente von unter 100 Euro. Diejenigen, die noch einigermaßen rüstig sind, verkaufen Gemüse und Eier am Rand der größeren Märkte oder werden mit ihren paar Obstkisten vor den Eingängen größerer Lebensmittelläden geduldet.
Die Zukunft all dieser Fonds ist auch noch aus einem anderen Grund nicht gesichert: Serbiens Bevölkerung schrumpft. Diese negative demografische Entwicklung nennt man auf dem Balkan ziemlich drastisch „weiße Pest“ – damit ist die sichtbar steigende Anzahl der Grauhaarigen im Vergleich zu den Jüngeren gemeint.
Der Generationsvertrag als Grundlage des Rentensystems wurde in den vergangenen Jahrzehnten auf eine harte Probe gestellt: Derzeit kommt auf eine Person im Arbeitsprozess je ein Rentner. Der Staat muss nun den maroden Kassen beistehen – 38 Prozent werden aus dem Staatshaushalt beigesteuert. Nichtsdestotrotz ist die Rente im Mittel unter dem per Gesetz vorgeschriebenen Niveau von 60 Prozent des Durchschnittlohns abgesunken.
Die serbischen Rentner versuchten sich zu wehren und gründeten ihre eigene Partei – die „Partei der vereinigten Rentner Serbiens (PUPS)“. Sie dient jetzt im Bund mit den Sozialisten als Mehrheitsbeschaffer für die von Tadics Demokraten geführte Regierungskoalition. Das ist die Gelegenheit, eine einmalige Verbesserung für die leidenden Senioren zu erreichen – natürlich auf Staatskosten. Das langfristige Problem wird jedoch bleiben. „Das nicht Erwirtschaftete kann man nicht verteilen“, sagt Babic trocken und fügt schelmisch hinzu: „Aber eigentlich bin ich eher etwas besorgt um die Zukunftsaussichten der Parteimitglieder.“