Karadzic nach Den Haag ausgeliefert
Alle Proteste der Ultranationalisten in Belgrad haben nichts geholfen: Serbien hat den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Radovan Karadzic am Mittwoch an das UN-Tribunal in Den Haag ausgeliefert. Schon am Donnerstag muss er erstmals vor dem Richter erscheinen.
Am frühen Mittwochmorgen hat Radovan Karadzic womöglich zum letzten Mal in seinem Leben Serbien gesehen. Er wurde mit einem Flugzeug der serbischen Regierung nach Rotterdam geflogen und anschließend per Hubschrauber ins UN-Untersuchungsgefängnis in Scheveningen überstellt. Bereits Donnerstag, 16 Uhr, wird er dem zuständigen Richter Alphons Orie vorgeführt. Zur Anklage will sich Karadzic nach Angaben seines Anwalts Svetozar Vujacic aber noch nicht äußern. Dazu hat er 30 Tage Zeit. In der Anklage werden dem ehemaligen Präsidenten der bosnischen Serben unter anderem Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. UN-Chefankläger Serge Brammertz sagte, er werde sich für ein „möglichst effizientes Verfahren“ einsetzen, verwies aber gleichzeitig darauf, dass die Vorbereitungen bis zum Prozessbeginn wohl noch „einige Monate“ in Anspruch nehmen.
Als die Auslieferung Karadzics in Belgrad bekannt wurde, hatten sich in der serbischen Hauptstadt gerade erst die letzten Tränengasschwaden verzogen. Am Dienstagabend war es bei einer von der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS) organisierten Kundgebung zur Unterstützung von Radovan Karadzic zu Straßenschlachten gekommen. Einige hundert gewalttätige Demonstranten hatten die Polizei angegriffen. Dabei wurden 74 Personen verletzt, darunter 51 Polizisten und zwei Journalisten. Zuvor hatten sich im Stadtzentrum etwa 16.000 Menschen versammelt. Mit übergroßen Porträts zeigten sie ihre Verehrung für Radovan Karadzic, den sie als „serbischen Helden“ hochleben ließen. Die Redner nannten die Verhaftung Karadzics einen Verrat am serbischen Volk, für den Staatspräsident Boris Tadic verantwortlich sei. Aus dem UN-Untersuchungsgefängnis in Scheveningen meldete sich auch Vojislav Seselj zu Wort.
Mit der Verhaftung Karadzics habe Boris Tadic versucht, „alle Werte der serbischen Gesellschaft zu vernichten. Serbien wurde angegriffen“, schrieb der ebenfalls schwerster Kriegsverbrechen angeklagte SRS-Vorsitzende in einer Botschaft. Am Tag nach den Randalen warf die SRS Tadic vor, hinter den gewaltsamen Ausschreitungen am Rande der Kundgebung zu stecken und diese gar organisiert zu haben.
Dass dem Aufruf der SRS, immerhin stärkste Einzelpartei und wichtigste Oppositionskraft im serbischen Parlament, nur gerade ein paar Tausend unzufriedene Bürger Serbiens gefolgt sind, deuten Beobachter in Belgrad als eine herbe Niederlage für die Ultranationalisten. Die Organisatoren hatten mit bis zu einer Viertelmillion Demonstranten gerechnet. „Sie wollten zeigen, dass sie führen und lenken können, doch sie zeigten nur ihr großes Unvermögen“, sagte Milan Nikolic, Direktor des „Center for Alternative Studies“ gegenüber dem Fernsehsender B92. Mittels ihrer Interpretation von Patriotismus wollten die Radikalen vertuschen, dass sie keine politischen Ideen hätten, urteilte der Politologe.
Während in Belgrad weiter darüber gestritten wird, wer hinter der Gewalt bei der Sympathie-Kundgebung für Karadzic steckt, bereiten sich dessen Anwälte intensiv auf den Prozess gegen den mutmaßlichen Massenmörder vor. Svetozar Vujacic bestätigte gegenüber B92, dass sich sein Mandant selbst verteidigen werde. Doch es werde Karadzic ein Team für rechtliche Fragen sowie ein weiteres Team für Dokumente zur Seite stehen. Dazu gehören nach Angaben von Vujacic auch Spezialisten aus dem einstigen Beraterstab zur Verteidigung von Slobodan Milosevic.
Karadzic hatte sich offenbar während der letzten Jahre bereits minutiös auf seine Verteidigung vorbereitet. Die entsprechenden Daten befinden sich laut Karadzics zweitem Anwalt Goran Petronijevic auf einem Laptop und rund 50 Disks, die nach der Festnahme Karadzics in seiner letzten Wohnung beschlagnahmt worden waren. Der frühere Präsident der bosnischen Serben habe zudem – anonym – auch bei der Verteidigung von Slobodan Milosevic mitgeholfen. Unter dem Pseudonym „Liebhaber der Wahrheit“ habe er wichtige Dokumente zur Verfügung gestellt, sagte Milivoje Ivanisevic, ehemaliges Mitglied des Milosevic-Teams. Ivanisevic wird nun auch Karadzics Beraterstab angehören. Die Weltöffentlichkeit wird sich derzeit aber wohl weit weniger für Karadzics Verteidigungsstrategie interessieren, als vielmehr dafür, wie der Mann aussieht, der Donnerstag Nachmittag erstmals nach seiner jahrelangen Flucht wieder vor die Kameras tritt – die Kameras des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag.